Über das Eigentum

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Der Arbeiterkönig der DDR wollte weiter der Chef sein und zugleich ein dickes Westauto fahren

Ob wir das gelesen hätten, eine „wilde Melancholie“ habe Schönbohm ergriffen bei der Nachricht von den Babymorden in Brandenburg. Eine „wilde Melancholie“! Schönbohm! Der Anrufer stockte. Wir hatten lange nichts von ihm gehört. Das schöne Wort Ernst Jüngers im Munde des Generals. Am anderen Ende der Leitung stürzten Welten zusammen.

Vielleicht muss man das erklären. Es geht natürlich um den Eigentumsbegriff. Jörg Schönbohm gilt unter Ostlern gewissermaßen als der geistige Gesamtproletarier. Und es ist überhaupt nicht so, dass wir gar kein Verständnis für Eigentumsfragen haben. Bestimmte Dinge, glaubt der Mensch, gehören ihm einfach, und anderen gehören sie nicht. Das ist ganz natürlich, so wie die Brandenburger Gutsbesitzer früher glaubten, ihnen gehöre alles. Und die vom Geiste Berührten glauben eben, ihnen gehören Gedanken. An manche Gedanken, hoffen die Gedankenvollen, rühren Unbefugte nie. Das gibt den Gedankenbesitzern ein eigentümliches Gefühl des Einverständnisses mit der Ordnung der Welt. Es ist eben nicht alles für alle da, sonst wäre alles nichts. Dieses Grundgesetz ist Kommunisten und Schönbohm schwer vermittelbar.

Der Mann ist immerhin Brandenburgs Innenminister. Innen-Minister. Auch ein schönes Wort. Es deutet an, das jemand etwas wissen könnte vom Innen eines Landes. Schönbohm ist also doch eher ein Brandenburger Außen-Minister. Und wieso wirft der General der DDR eigentlich „Proletarisierung“ vor? Nach der Wende bekam der Osten alles neu, unter anderem Denkformen. Denkformen muss man sich ungefähr so vorstellen wie Backformen; man benutzt sie einfach und es kommt immer etwas irgendwie Vorgeformtes dabei raus. Meistens geht das in Ordnung, aber nicht immer. Zum Beispiel fällt es mir noch immer schwer, mich daran zu gewöhnen, dass ich ein „Verbraucher“ bin, mit der apokalyptischen Steigerung „Endverbraucher“.

Andere haben Schwierigkeiten mit den Worten „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“. Formal-juristisch geht das schon in Ordnung. Und doch: Sollte man das nicht ab und zu mal umdrehen, um des höheren Realitätssinns willen? Dann wäre Schönbohm das mit der „Proletarisierung“ sicher nicht passiert. Denn bevor jene, die ihre Arbeit geben, als Arbeit Nehmende gelten konnten, musste eine historische Bedingung erfüllt sein, die im Arbeitskraft-Kaufvertrag nicht mehr vorkommt: die Proletarisierung. Der Proletarier war erst dann Proletarier, als er gar nichts mehr besaß. Die DDR war der Versuch, das Proletariertum zu überwinden. Sie hat es geschafft und nicht geschafft zugleich. Die DDR hat erfolgreich alle Kapitalisten verjagt, am Ende blieb nur noch ein einziger übrig – sie selbst. Der Staat war der Gesamtgroßmonopolkapitalist der DDR. Leider war er nicht besonders gut in diesem Fach.

Andererseits hat sie es doch geschafft: Nie wieder wird es solche Arbeiter geben wie die früher im Osten. Wer „Proletarisierung“ sagt, kann das merkwürdige Selbstbewusstsein der Arbeiter früher im Osten nicht verstehen. Proletarisierung klingt unheilbar nach geducktem Massenmensch mit großen Fäusten. Aber der Arbeiter im Osten musste sich nicht ducken. Er hatte keine Angst; er sagte, was er dachte, niemand konnte ihn entlassen; er ließ seine Vorgesetzten vor sich niederknien, denn er war ganz und gar unersetzbar. Er war der Chef in der Mangelgesellschaft DDR. Doch diesem Königswesen der DDR unterlief zur Wendezeit ein Fehler, den viele Monarchen machen. Sie wollen immer noch mehr. Der Arbeiterkönig der DDR wollte weiter der Chef sein und zugleich ein dickes Westauto fahren. Die Wende war gewissermaßen der historische Irrtum des DDR-Arbeiters. Man kann das auch mehr soziologisch formulieren: Er fiel direkt aus der ersten Moderne, der Industriemoderne, mitten hinein in die zweite Moderne, die ganz gut ohne Arbeiter auskommt. Ja eigentlich noch viel besser. Aus dem König von einst ist ein Bettler geworden. Er ist der Ersetzbarste überhaupt geworden, schlimmer noch: Man macht sich oft nicht einmal mehr die Mühe, ihn zu ersetzen.

Falls Brandenburg Schönbohm nun nicht mehr will, könnte er vielleicht Innenminister auf Sizilien werden. Sizilien ist eine Herausforderung für jeden Innenminister, schon rein sicherheitstechnisch gesehen, wegen der vielen Mafiosi. Und Schönbohm hätte zugleich Gelegenheit, seine Doppel-These zu überprüfen, wonach erstens die Kollektivierung der Landwirtschaft das Urböse und zweitens der kollektivierte Landwirtschafts-Proletarier ein potenzieller Verbrecher ist. Auf Sizilien werden nämlich gerade landwirtschaftliche Kooperativen gegründet, und zwar von lauter Besitzlosen. Die Kooperativen entstehen auf den Gütern der Mafiosi, die gerade längere Zeit im Knast sitzen müssen. Wie zum Beispiel Giovanni Brusca. Der fiel unter anderem dadurch auf, dass er den Sohn eines anderen Mafiabosses in einer Höhle gefangen hielt und ihn später in Säure auflöste.

Und 1992 sprengte er mit 400 Kilogramm Sprengstoff 50 Meter Autobahn in die Luft. Auf der Autobahn fuhr gerade ein Richter, den er nicht leiden konnte. Auf Sizilien kam man nach dem Krieg auch auf die Idee, eine Bodenreform zu machen. Die sizilianischen Mafiosi waren die größten Gegner der Bodenreform und bedeutende Antikommunisten, fast wie der General. Aber nun haben sizilianische Habenichtse eben die Ländereien des Giovanni Brusca bekommen. Sie heißt jetzt „Placido Rizzotto“, das ist ein Gewerkschaftler, der damals die sizilianische Bodenreform wollte.

Nur was hat der Fall der Kindsmörderin Sabine H. mit der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR und auf Sizilien zu tun? Nichts. Die Frau ist Zahntechnikerin, richtiger: sie war Zahntechnikerin und sie lebte auch nicht auf dem Dorf, sondern in Frankfurt (Oder). Das ist zwar nicht ganz so wie Frankfurt/Main, aber irgendwie doch eine Stadt, eine eigensinnig sterbende Stadt. Es liegt an der Wertevermittlung!, riefen andere Diagnostiker der Tragödie von Brieskow-Finkenheerd. Der Osten hat keine Werte, er ist zu gottlos. Das mag sein, aber Sabine H. war nicht gottlos. Ihr Vater sang im Kirchenchor und die Mutter wurde Hausfrau wegen der Kinder. Kirchenchor-Väter und Hausfrauen waren in der DDR fast so exotisch wie Kapitalisten.

Jörg Schönbohm gilt unter Ostlern gewissermaßen als der geistige Gesamtproletarier

Der berühmte Statistiker Christian Pfeiffer hat schon wieder eine neue Statistik veröffentlicht. Danach ist es für kleine Kinder im Osten dreimal wahrscheinlicher, Opfer einer Kindstötung als im Westen zu werden. Allerdings ist Pfeiffers Statistik von letzter Woche, da sind die beiden von ihrer Mutter getöteten Kinder aus Essen noch nicht berücksichtigt.

Vor lauter Statistik bemerkt keiner das eigentlich Erstaunliche. Dass Westen und Osten auf getrennten Wegen ähnlich modern geworden sind. Denn auf den Eigentumsbegriff kommt es an. Man erkennt die Modernität eines Landes daran, inwieweit Menschen bereit sind, den Eigentumsbegriff aufzugeben, und zwar in Bezug auf andere. Menschen geben Menschen frei. Männer ihre Frauen, Eltern ihre Kinder. Man besitzt den anderen nicht mehr. Die Formen des Zusammenlebens und der Erziehung verraten es. Im Osten wie im Westen.