piwik no script img

Befreiung unter dem Pixelschleier

Am Theater Bremen startet die Tanzsparte mit gleich zwei Premieren in die neue Spieltzeit: Samir Akika bringt mit „Bravehearts“ eine intime Mutter-Tocher-Beziehung auf die Bühne, während Máté Mészáros’„Spektrum“ als bildgewaltiger Gegenentwurf überzeugt

Befreit sich von der Physis zum Selbst: Aaron Samuel Davis in „Spektrum“ Foto: Jörg Landsberg/Theater Bremen

Von Jens Fischer

Jetzt wird auch Bewegung wieder Kunst. Die mit dem tänzerischen Ausdruck beschäftigte Sparte des Theaters Bremen kommt als letzte, aber gleich mit zwei Produktionen aus der sommerlichen Premierenpause. Macht allerdings dort weiter, wo sie aufgehört hatte: Statt großer künstlerischer Behauptungen sind kleine Suchbewegungen zu erleben – hin zu einer neuen Identität, nachdem der kreativ ausgepowerte Samir Akika die Leitung abgegeben hatte. Er findet für „Brave­hearts“ aber in seiner Paradedisziplin zur Tradition der ­Unusual-Symptoms-Compagnie zurück: Nicht Tänzer, sondern tanzende Menschen bringen ihre Ich-Erzählungen in gruppendynamische Bewegungskonzepte ein. Sozusagen Homestorys auf der Bühne.

Beeindruckend pur realisiert Akika das Konzept mit der in Glasgow geborenen, in Bern aufgewachsenen, in Bremen wohnenden Kiri Haardt. Von 1996 bis 2007 war sie Mitglied der Ensembles von Susanne Linke beziehungsweise Urs Dietrich und hat sich jetzt auf ein Porträt der Beziehung zu ihrer 18-jährigen Tochter eingelassen: Geraldine Rummel, angehende Abiturientin und bei den Jungen Akteuren aktiv.

Die Performance startet mit Tonspurschnipseln aus dem „Bravehearts“-Film über den schottischen Freiheitskämpfer William Wallace und einer Videoanleitung zum Haggit-Kochen, eine Art Knipp aus Innereien. Beides macht ästhetisch wenig, inhaltlich immerhin oberflächlich Sinn – als Anspielung auf Haardts Heimat. Oder auch darauf, dass Wallace 1305 als Strafe für seinen Widerstandsgeist ausgeweidet wurde und Identitätsbildung als Verwurstung disparater Zutaten funktionieren kann. Akikas Regiearbeit lässt solche Assoziationen aber brach liegen. Seine Inszenierung wirkt, als collagiere er locker nachgestellte Übungen und Übungsergebnisse von Workshops zum kritischen Abtasten moderner Mutter-Tochter-Konflikte: Wie sehr prägt diese Beziehung das Leben der beiden? Vom szenisch aufbereiteten Material wirkt vieles noch unausgearbeitet, einiges zu lang ausgebreitet, anderes ist emotional auf den Punkt gebracht.

Die Protagonistinnen formulieren erst mal unisono aus der Hüfte heraus ein gemeinsames Bewegungsvokabular, wobei die Mutter wie eine Trainerin Tempo und Variationen vorgibt. Zunehmend tastet sich die Tochter in eigene Artikulationen vor, zunehmend lustvoller, ungestümer. Überhaupt ist sie viel mutiger, ihre Sicht der Beziehungsdinge anzusprechen und auszuspielen, wenn Dialoge mit der Mutter mal wieder scheitern im Streben nach Nähe und Selbstständigkeit. Auch Kampf-Liebes-Tänze resultieren daraus. Im Mittelpunkt stehen aber Szenen der Verlassenheit.

Gerade Kiri Haardt zeigt sich ambivalent. Will sie sich auf ihre Kunst und ein exaltiertes Leben konzentrieren, sagt sie „Verpiss dich“ zur Tochter, schiebt aber gleich hinterher: „Bleib bei mir.“ Ständig scheint sie beruflich abwesend zu sein, muss irgendwo dozieren, tanzen oder choreografieren. Dann zieht sie einen roten Pelzmantel über und taumelt trunken durch ihre Tanzwelt, während sich die Tochter alleingelassen um den Küchentisch windet. Final monologisiert sie trotz allem eine emphatische Liebeserklärung an die Mutter. Es sind diese kleinen – so großen – Momente des persönlichen Öffnens, die einen bewegenden Abend schaffen.

Nicht Tänzer, sondern tanzende Menschen bringen ihre Ich-Erzählung auf die Bühne

Radikal ist der Gegenentwurf mit Máté Mészáros’Choreografie „Spektrum“, die Tanzminiaturen visuell betörend verpackt. Projektionskünstler der Bremer Zauberwerkstatt Urbanscreen kreieren mit prismatisch gebrochenen Strahlen, verwirrten Scheinwerferspots sowie changierenden Farb- und Formspielen ständig neue, stetig sich verändernde Bühnenräume allein aus Licht – damit, darin, dagegen muss sich das Ensemble behaupten. Mit zeitlupig abstrakten Bewegungsexkursionen und privatem Headbanging-Exzesses wird es versucht. Auch symbolisches Gegen-die-Wand-gedrückt-Werden, kraftvoll sportives Gebaren, kreiselnder Bewegungsminimalismus konfrontiert die räumliche Dynamik. Schließlich liegt ein Pixelschleier über den Figuren und degradiert die Getriebenen zu hilflos treibenden Objekten.

Jazz-Schlagzeuger Áron Porteleki putscht nun live einen freien rhythmischen Puls zum Exzess, grandios! Und spornt so einen Tänzer an, die im digitalen Rauschen verkümmerte Physis in zeitloser Geschmeidigkeit zu sich selbst zu befreien. Also ein beredt stummes Statement gegen die Körpervergessenheit in virtuellen Welten zu setzen. Selbstbewusst verlässt er die Bühne. Eine höchst überzeugende Szene.

All die anderen voneinander isolierten Tanzbeiträge können die überwältigende Optik der Produktion zwar ebenfalls beleben, inhaltlich aber kaum etwas implantieren. Sie wecken allerdings die Sehnsucht, dass die Geschichten vom Suchen der eigenen Möglichkeiten doch bald zu solchen des Zu-sich-selbst-Findens der Tanztheatersparte werden.

„Spektrum“: 13. und 20. 11., 20 Uhr, Theater Bremen, Kleines Haus; „Bravehearts“: 20., 21. und 22. 12., 19 Uhr, Brauhaus

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen