Die Kanzler-Chance

VON LUKAS WALLRAFF

Was passiert, wenn Karlsruhe die Neuwahlen doch noch stoppt? Wird Rot-Grün dann einfach weitermachen? Kann Gerhard Schröder bis zum regulären Wahltermin 2006, also noch mehr als ein Jahr lang, Kanzler bleiben, obwohl er doch gerade erst bekundet hat, ihm fehle das stetige Vertrauen des Parlaments? Formal betrachtet, ist die Antwort einfach: Ja. Niemand könnte Schröder zwingen, seinen Rücktritt einzureichen. Mit der Vertrauensfrage, die er wie gewünscht verlor, hat er sich nicht verpflichtet, auch ohne Neuwahlen freiwillig das Kanzleramt zu räumen.

Politisch ist die Antwort auf die Frage, wie es weiterginge, schwieriger. Viel schwieriger. So schwierig, dass führende SPD-Politiker lieber gar nicht darüber reden möchten. „Natürlich warten wir alle mit Respekt auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts“, sagt der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, der taz. Doch das ist nur eine rhetorische Pflichtübung. Schon im nächsten Satz wird deutlich, was er vom obersten Gericht erwartet: die Neuwahlen durchzuwinken. Dass Karlsruhe eine andere Entscheidung treffen könnte als die von allen Parteien gewünschte, sprengt die Grenzen seiner Fantasie. „Das liegt außerhalb meines Vorstellungsvermögens“, so Wiefelspütz. Warum? „Weil die Plakate schon gedruckt sind.“ Die Neuwahlen jetzt noch abzublasen, „würde zu einer tiefen Verunsicherung in der Bevölkerung führen“, warnt der SPD-Politiker. Doch wäre wirklich nur die Bevölkerung verwirrt? Wohl kaum. „Über die Auswirkungen auf die SPD will ich gar nicht nachdenken“, räumt Wiefelspütz schließlich kleinlaut ein.

Bisher haben sich die Sozialdemokraten darauf eingestellt, dass sie noch ein paar Wochen bis zur Wahl durchhalten müssen – mit Schröder. Danach ist der Abschied des Kanzlers längst eingeplant, selbst wenn die Wahl für die SPD noch einigermaßen gut ausgehen sollte, das heißt: wenn sie nicht in die Opposition gehen muss. Für eine große Koalition unter einer Kanzlerin Angela Merkel, so viel ist sicher, stünde Schröder nicht mehr zur Verfügung. Die SPD-Spitze würde sich neu formieren. Sagt Karlsruhe aber Nein zu Neuwahlen, sehen die Zukunftsperspektiven plötzlich wieder anders aus – für alle. Vor allem jedoch für Schröder, der einen ganz neuen Handlungsspielraum bekäme. Die Frage wäre dann, ob er seine neue Chance noch nutzen möchte. Wenn ja, wird es spannend.

Das Szenario liegt auf der Hand: Die Union würde eine Minute nach der Urteilsverkündung einen Rücktritt Schröders fordern. Schon aus Prinzip. Das wiederum würde die SPD, ebenfalls aus Prinzip, zur Solidarität mit ihrem Kanzler zwingen. Falls der weitermachen möchte. Die Versuchung für Schröder könnte groß sein: Wenn sich die Umfragewerte, wie zuletzt geschehen, binnen weniger Wochen verbessern lassen, welche Chancen bieten sich dann erst innerhalb eines Jahres?

Und wer sollte Schröder bis dahin schon stürzen? Die eigenen Parteilinken? Eher unwahrscheinlich. Zum Königsmord waren sie nicht einmal im Mai bereit, als Schröder weitaus schlechter dastand als zurzeit. Würden sie ihm jetzt ihre Stimmen verweigern, wenn ein zu neuem Kampfgeist erwachter Kanzler die Unternehmensteuersenkung in den Bundestag einbringt? Der SPD stünden neue Qualen bevor. Aber eine Rebellion? Dafür ist weit und breit kein anderer Kandidat in Sicht, der die Wahlchancen der SPD im nächsten Jahr erhöhen würde. Parteichef Müntefering hat das Neuwahltheater mehr geschwächt als Schröder.

Und die Union? Könnte nicht viel tun. Ein konstruktives Misstrauensvotum, um Schröder durch Merkel abzulösen? Dafür müsste sich die Union jetzt schon auf eine große Koalition einlassen (unwahrscheinlich) – und die SPD mitmachen (noch unwahrscheinlicher). Spielt Karlsruhe den Ball nach Berlin zurück, liegt er bei Schröder.