berliner szenen: Sie kam aus dem Osten
Die Nachricht von Alea war eine Sprachnachricht. Ich saß im Bus und steckte mir die blauen Ohrstöpsel ein. Während wir weiter durch den Regen der Vorstadt fuhren, von Haltestelle zu Haltestelle, hörte ich ihrer schönen Stimme zu, wie sie mir eine harte Absage für den Abend erteilte. Ich musste schlucken und war gleichzeitig froh, ihrem Akzent lauschen zu dürfen. Und wie schön sie war, als ich sie das letzte Mal sah in ihrer russischen Anmutung: hohe Stiefel, strenger Rock, ein dunkelblauer Mantel, und auf dem Kopf eine Art Schapka in gestrickt. Alea Schmidt, ein denkwürdiger Name.
Sie kam aus dem Osten, aus einer nordrussischen Küstenstadt. Man sah es ihr nicht an, man hörte es aber. Sie war eine Spätaussiedlerin. Sie war bei ihrer Mutter aufgewachsen, ihr Vater war früh verschwunden, sie wusste nicht, ob er noch lebte. Angeblich hatte er eine andere Frau kennen gelernt, als sie drei war, und war dann abgehauen. Die Aussagen ihrer Mutter variierten je nach Stimmung. Mal war der Vater ein unersetzlicher Verlust, die große Liebe, die sie niemals hätte gehen lassen dürfen, mal war er ein Idiot, ein Schürzenjäger, eine untreue Seele, die sie fallen gelassen, verraten, gedemütigt hatte, und er konnte von ihr aus krepiert sein, egal wo. Es gab Fotos von ihm, Bilder, auf denen ein graugesichtiger Mann vor unfertigen Häusern stand, auf Baustellen, mit Mützen oder Helmen auf dem Kopf, fast ein Architekt. Ein Bauleiter. Es gab kleine Filme, in denen er über Projekte redete, oder lachte, tanzte und feierte. In einem kleinen Film saßen er und ihre Mutter, noch sehr jung, auf einer Parkbank und küssten sich, der Film sei irgendwann aufgetaucht, hatte die Mutter erzählt, sie haben nicht gewusst, dass sie gefilmt worden sei. Der Bus hielt, ich schreckte auf, war aber gar nicht meine Haltestelle.
René Hamann
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