Zeiten wenden

Paul-Hindemith-Preis für die des Romantizismus verdächtige Pianistin Lera Auerbach

„Parallelgesellschaften“ lautet ein beliebtes Schlagwort zur Beschreibung postmoderner Wirklichkeit, und der ehemalige Kritiker der zynischen Vernunft, Peter Sloterdijk, hat jüngst gar eine „Schaumkunde“ als Beschreibungsmodell vorgeschlagen. Tenor: Jeder bewohnt heute seine eigene Seifenblase. Nirgends ist dies zutreffender als in der Musik. Der immens produktiven Bewohnerin einer dieser Seifenblasen wird nun einer der höchst dotierten deutschen Komponistenpreise verliehen: Die 32-jährige russisch-amerikanische Komponistin und Pianistin Lera Auerbach erhält den Paul-Hindemith-Preis 2005.

Auerbachs Vita gebietet in der Tat Respekt: Mit 17 nutzte die im sibirischen Tscheljabinsk geborene Musikerin eine Konzerttournee, um sich in die USA abzusetzen. Ohne Geld, ohne Familie, ohne Englischkenntnisse, aber mit der klaren Einsicht, dass der Westen ihr bessere Chancen bieten würde. Seitdem hat sie ein umfangreiches kompositorisches Werk geschaffen, als Pianistin konzertiert, fünf Bücher mit Prosa und Lyrik veröffentlicht und für ihr schriftstellerisches und kompositorisches Werk etliche Preise erhalten. Dem Hamburger Publikum ist Auerbach vor allem durch ihre Musik zu Balletten von John Neumeier bekannt; der musikalischen Kritik ist sie ihres ungebremsten Romantizismus‘ wegen vor allem verdächtig.

Souverän komponiert Auerbach Musik aus dem Geiste der Tradition. Ihre Welt ist die wohlbekannte der 24 Präludien durch alle Dur- und Moll-Tonarten, und sie weiß ihre Position offensiv zu vertreten: „Jede Zeit und jeder Stil ist eine Reaktion auf die vorangegangene Epoche. Was ich mache, ist wirklich modern“, findet sie. Im Klartext: Rachmaninow ist ein Nachfolger von Boulez.

Nun könnte man für den Ausdruck einer neuen Zeit auch nach neuen Mitteln suchen. Auerbach aber sieht das anders: „Unsere Zeit ist die Kombination und die Summe aller vorangegangenen Epochen. Der einzige Weg, voranzukommen, besteht darin, das zu akzeptieren und es heute zu reflektieren.“ Der Jazz zum Beispiel – obwohl ja auch der meist mit tonalen Akkorden operiert – ist für die Avantgardistin ein alter Hut. Das wäre zu seiner Zeit wohl mal eine Entdeckung gewesen, aber heute „leben wir im 21. Jahrhundert, und die Zeit schreitet voran“. Die alte Sowjetunion hat offenbar nicht nur exzellente Musiker, sondern auch wendige Dialektiker ausgebildet.

Walter F. Stettler

Preisverleihung: Do, 11.8., 19 Uhr, Reinbeker Schloss