Landschaft mit Tänzern

Er verknüpft Choreographie, Malerei und Skulptur: Shen Wei eröffnet das Laokoon-Festival auf Kampnagel

von Petra Schellen

Wie eigentlich soll man den Frühling skizzieren? Wie nachvollziehbar machen, dass sich die Blumen in den kalten Gefilden dieser Erde besonders beeilen, wenn der Winter endlich weicht? Wie dem Kontinentaleuropäer das rasante Wachstum nahebringen, das Nordskandinaviens und -russlands Blumen in diesen Phasen befällt und das sie zu riesigen Blüten veranlasst? „An Russland hat mich immer der heftige Frühling fasziniert“, hat Strawinsky über sein 1913 uraufgeführtes Sacre du Printemps („Das Frühlingsopfer“) gesagt. „Er schien in einer Stunde zu beginnen, und die ganze Erde schien mit ihm aufzubrechen.“ Die Natur, das spürte er, hatte Angst vor ihrer eigenen Eruption – eine Empfindung, die Strawinsky im Sacre in den Todestanz der jungen Frau für die Frühlingsgötter umgesetzt hat.

Und Shen Wei, dessen Vater selbst choreographierte, infolge der Kulturrevolution aber aufs Land verschickt wurde? Der später zurückkehrte, sich zehn Jahre lang mit chinesischer Oper befasste und 1990 die Guangdong Modern Dance Company mitgründete, das erste moderne Tanzensemble Chinas? Shen Wei, dessen Rite of Spring das Laokoon-Festival auf Kampnagel eröffnet, tat, was er in seinen Stücken immer tut: Er hat Musik und Tanz ihres Ballasts entledigt. Hat kein Orchester, sondern Fazil Says Aufnahme des Sacre für zwei Klaviere als Untermalung gewählt und eine riesige schwarzweiße Skizze auf den Boden geworfen. Die Tänzer sind schwarz und grau gekleidet und haben weiße Kreidegesichter. Dezent betreten sie zu Beginn die Bühne; der Zuschauer bemerkt es kaum. In die Abstraktion hat Shen Wei das Strawinsky-Stück so geführt, hat den vermeintlich archaischen Ballast hinter sich gelassen – um ihn in eine kalligraphische Schöpfungsgeschichte umzuwandeln: Mensch, Kunst und Welt erschaffen sich neu am Ende des Winters – in einem Mix aus Bewegungen der chinesischen Oper und des modernen Tanzes.

Als Maler, Bildhauer, Tänzer und Choreograph betätigt sich Shen Wei, der im Mai diesen Jahres bereits beim Movimentos Tanzfestival in Wolfsburg gastierte. An einer schlichten Vermengung chinesischer und westlicher Elemente liegt dem heute in New York lebenden Künstler wenig: Er fügt sie vielmehr neu zusammen, die schon von Strawinsky fragmentierten Versatzstücke, setzt die Tänzer skizzenhaft auf die Bühne und lässt sie ihre eigenen Spuren zeichnen. Überflüssig übrigens zu erwähnen, dass er Le Sacre du Printemps im Rahmen seiner Bearbeitung auch seines archaischsten Bestandteils beraubt hat: Bei Shen Wei gibt es keine einzelne Auserwählte, die auf der Weisen Geheiß sterben muss. Hier müssen sich alle zu Tode bzw. ins Leben tanzen. Was dieser chinesische Künstler, der selbst übrigens mittanzt, zeigt, ist nicht nur die Abstraktion eines religiösen Rituals. Shen Wei präsentiert eine Art Dance in Progress und setzt in bewegte Skulptur um, was dem Westen oft mystisch erscheint: jene – nach angemessener Pause – intuitiv und treffsicher aufs Papier geworfenen kalligraphischen Zeichen, deren Form Ausdruck gereifter Spiritualität ist.

Wobei der Bezug zum Papier für Shen Wei mehr als eine Metapher ist: Folding heißt das zweite am Laokoon-Eröffnungsabend präsentierte Stück, denn „ob ich Papier falte, Pappe oder Fleisch, ist letztlich egal“, sagt Shen Wei. Und wenn den Hintergrund ein chinesisches Landschaftsgemälde des 18. Jahrhunderts bildet, stört ihn das kein bisschen. Im Gegenteil, er installiert dies ganz bewusst, ist es doch willkommene Anspielung auf ein Genre, das den – oft als Künstler oder Eremit begriffenen – Menschen mit Bedacht und Präzision in räumliche Relation zur überbordenden Natur setzt. Die Endlichkeit von Zeit und Raum manifestieren sich in den Gemälden dieser Epoche. Was Wunder also, dass Shen Wei sein zweites Stück, Folding – ein in die dritte Dimension fortgesetztes Gemälde – um den Gesang tibetischer Mahakala-Buddhisten ergänzt, die in langgezogenen Tonreihen die Distanz zwischen Zeit und Ewigkeit zu verfugen suchen.

Eröffnung des Laokoon-Festivals mit Shen Wei Dance Arts: Mi, 17.8., 20 Uhr, Kampnagel. Das Laokoon-Festival dauert bis zum 3.9., Programm unter: www.kampnagel.de