Der Wahlkampf, ein Stalkingdelikt?

Das Kabinett einigt sich auf einen Entwurf, der hartnäckiges Nachstellen unter Strafe stellt. Justizministerin Zypries denkt dabei an unbelehrbare Exgatten. Doch erfüllt nicht auch der Bundestagswahlkampf den neuen Tatbestand? Eine Beweisführung

VON COSIMA SCHMITT

Brigitte Zypries drängte, und die Regierung schritt zur Last-Minute-Tat. Wer andere beharrlich belagert, belästigt, bedroht – der soll dies hinter Gittern sühnen. So verlangt es der gestern im Kabinett beschlossene Gesetzentwurf. Justizministerin Zypries (SPD) dachte an unbelehrbare Exgatten oder verprellte Liebhaber und wen sonst die Forschung als gängige Stalker-Typen benennt. Doch die Klientel ist breiter. Betrachtet man die Kriterien, die den Fan vom Stalker unterscheiden, dann ergibt sich noch eine andere Sicht. Der Bundestagswahlkampf 2005 – ist nicht auch er ein Stalkingdelikt?

Der Gesetzentwurf schreibt fest: Als Stalker gilt, wer unbefugt und beharrlich die räumliche Nähe eines anderen aufsucht.

Solchermaßen genötigt fühlt sich auch mancher Staatsbürger. Die verprellte Geliebte, seine Stammpartei, will ihn nicht in die Wahlfreiheit entlassen. Beharrlich buhlt sie um sein Stimmenkreuz. Dafür positioniert sie sich im engsten Umkreis: An den Ampelmasten seiner Straße. Zwischen der Briefpost. Sie dringt via TV-Bildschirm in sein Wohnzimmer ein, nötigt Lebenszeit ab, wo mensch doch nur auf den Mörder oder das Happy-End wartet. Per Werbekuli lässt sie sich in den Handtaschen nieder. Mit Luftballons besticht sie das Wählerkind.

Ein Stalker riskiert bis zu drei Jahre Gefängnishaft, wenn er sein Opfer mit einer Anruf- oder E-Mail-Flut bedrängt.

Auch Parteistrategen schätzen das aggressive Telefonmarketing. Gerade Randparteien wählen sich durch die Privathaushalte. Während der Bürger sein Frühstücksbrötchen schmiert, umlullt ihn eine Parolenflut. Zwischen Mutti und Tennispartner schiebt sich auf dem Anrufbeantworter ein „Wähl uns“-Slogan.

Als Stalker gilt zudem, wer einem anderen Gewalt androht. Er macht sich strafbar, auch wenn er gar nicht wirklich zuschlägt. Es genügt, dass er sein Opfer über Wochen seelisch terrorisiert.

Auch der Wahlkämpfer schätzt die Psycho-Nötigung. Sein Szenario: Wenn ihr uns nicht wählt, dann erwartet euch eine Ära der Entbehrungen. Ein Leben ohne Jobs, ohne Wohlstand, mit kargster Rente.

Bleibt ein letztes Stalking-Delikt: Das Bestellen von Waren in fremdem Namen.

Der Standard-Stalker ordert eine Polstergarnitur oder eine Tannenbaum-Kolonie für den fremden Vorgarten. Die Parteien agieren subtiler. Ihre unverlangte Sendung sind die Koalitionszusagen. Im Wählernamen liefern sie Waren, die dieser gar nicht wollte: Eine große Koalition etwa oder ein sonstiges Mischbündnis.

Der Wahlkampf – er ist die Hochzeit der Belästiger. Eins immerhin darf die Opfer trösten. Ihre Belagerung ist kein Dauerschicksal. Seelische Langzeitqualen drohen ihnen nicht. Am 18. September werden die Täter verstummen – bis zur nächsten Wahl.