Nils Schuhmacher Hamburger Soundtrack: Keine unschuldigen Rebellen
Früher war alles besser. Da gab es die Spex, in der Diedrich Diederichsen gegenüber einem größeren (oder wenigstens meinungsbildenden) Publikum die Zusammenhänge zwischen den Elenden und den Erlebenden, zwischen Pop und Politik, zwischen Sound und Style aufdeckte. Später existierte – „immerhin“, so würden es manche in der Rückschau sagen – noch die Intro, die sich der Nachstellung kritischen Bewusstseins widmete. Bis das „Magazin für Pop und Kontrollverlust“ (Eigenbezeichnung) niemand mehr brauchte.
Denn der Pop sieht heute so aus: Die Inseln seines besseren Journalismus und seiner Theoriebildung findet keiner mehr. Oder sie steuert keiner mehr an. Oder sie haben ihren geschmacks- und meinungsbildenden Charakter eingebüßt und sind nur ein Ausflugsort von vielen. Stattdessen generieren Freelancer aus Promo-„Agenturen“ Wordings, die dann von ihren Freunden, die für Online-Portale arbeiten, übernommen werden, während das eigentliche Geschäft darin besteht, die Songs der betreffenden Band in Spotify-Playlists zu platzieren.
Und der Kontrollverlust? Dafür braucht man in Zeiten von Trump, Cyber-Hatern, Copy-Cat-Attentätern und dergleichen wirklich keine Popbands mehr. Die Genannten haben die Kernoperationen des Pop ja längst okkupiert und bringen sie in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen zur Anwendung. Der Pop wiederum hat entweder seine Strahlkraft verloren und plätschert als kreuzbraves Entspannungsmoment durch unser Leben oder er bezieht seine Attraktivität daraus, dass rebellische Momente als männlich-gewalttätige Allmachtsfantasien inszeniert werden. Siehe dazu die unterschiedlichen Varianten von Frei.Wild bis Kollegah.
Unter anderem Diederichsen hat kräftig zur Entzauberung des Mythos vom unschuldig-rebellischen oder gar linken Pop beigetragen. Und zwar bereits vor annähernd 30 Jahren im Kontext der rassistischen Pogromwellen in Deutschland. Aktualisierende Befunde finden sich beispielsweise bei Georg Seeßlen und Jens Balzer.
Damit ist erstens gesagt, dass früher auch schon manches nicht so gut war, und dass man zweitens keinen Grund hat, ratlos vor den aktuellen Verwerfungen zu stehen. Und drittens stimmt natürlich auch: Jeder Schatten muss weiterhin damit rechnen, dass ein kleines oder größeres Licht auf ihn fällt.
Sei es Derya Yildirims wortwörtliche Weltmusik (12. 10., Knust), seien es Stereo Total (mit ihrem anarchistisch-schwitzigen Elektropop (17. 10., Uebel & Gefährlich). Und wer es symbolisch mag: Das Konzert von Everything is terrible (16. 10., Stage Club) wurde abgesagt.
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