Ausgehen und rumstehen von Jenni Zylka
: Auf der Extravaganza-Scala ist noch Luft nach oben

Coppolas „Der Pate“ hatte mich zur Übernahme einer Apfelbaumpatenschaft angeregt. In „Der Apfelbaumpate“ steckt zugegeben nicht der gleiche, riskant-morbide Charme wie im Filmtitel, doch mir reicht’s. Und weil ich schließlich nicht aus Zucker bin, fahre ich im strömenden Regen nach Brandenburg, um festzustellen, dass das mit den Frostschäden tatsächlich stimmt – mein krüppeliges Patenbäumchen trägt ungefähr 3,5 knödelige, immerhin sehr schmackhafte Früchte mit pubertär aussehenden Hautunreinheiten. Ich darf aber an den anderen äsen, wenn ich die Pflückregeln beachte: Äpfel nach oben vom Zweig abhebeln, nicht abreißen! Nie mehr als zwei Äpfel in die Hand nehmen! Und ganz wichtig: Nie einen Apfel von der einen in die andere Hand geben! Sonst passiert etwas Schlimmes! Wahrscheinlich explodiert später einer der Äpfel in der Kiste, weil ein Bauer namens Don Vito Corleone ihn dementsprechend präpariert hat. Man weiß ja, dass das Leben in der Natur seine Tücken hat.

Deshalb sause ich aus dem gefährlichen Umland zurück in die sichere Stadt, zum „Match Cut“-Festival in der Volksbühne. Zwischen den beiden Konzerten kann man bei der „Match Cut Map“ mitmachen und über einen QR-Code elementare Musikhörerlebnisse in den dazugehörigen Jahren an entsprechenden Orten auf einer Landkarte einzeichnen. Die sich langsam mit Hör-Sternen füllende Karte wird an die Wand im Foyer projiziert. Klickt man die Sterne an, ist zu lesen, wer wann welche Musik entdeckt oder live gesehen hat. Den Sound im großen Saal im Ohr, wo John Gürtler, Philipp Sollmann, das Zafraan Ensemble und das Babylon Orchester sich weit vom Mainstream entfernen, Melodien auf Glocken spielen und elektronische Piepser wie eine Alien-Konversation hin und her schicken, finde ich den Map-Eintrag „1999 Robbie Williams – bestes Konzert, das ich je erlebt habe“ geradezu süß. Von Robbie Williams zu Zafraan ist es ein langer und bestimmt zuweilen steiniger Weg. Und wenn der oder diejenige seine oder ihre Plattensammlung alphabetisch geordnet hat beziehungsweise überhaupt Platten besitzt, dann stünden Williams und Zafraan vermutlich fast nebeneinander. Nur notdürftig getrennt durch eine „X-Ray-Spex“-Platte (das glaube ich angesichts der Williams-Geschichte aber nicht) oder durch „The Yellow Magic Orchestra“ (auch unwahrscheinlich).

Am Samstagabend gehe ich in Mitte essen, und gegen die Lautstärke, mit der im Restaurant die Beats wummern, war die Neue Musik vom Vortag Chorknabengeflüster. Die asiatischen Röllchen tanzen zum Rhythmus auf dem Teller, und auf der Cocktailoberfläche entstehen konzentrische Kreise. Alle um uns herum sind das gewöhnt und schreien sich freundlich an. Ich muss kurz auf die Toilette, um mit dem (weißen) Rauschen der Wasserspülung die Ohren zu entspannen. Später läuft Yma Sumac in einer Bar, und mir fällt wieder ein, dass ich unbedingt noch etwas an meiner Flamboyanz arbeiten muss, bevor ich so richtig uralt bin. Ich sollte auch über Frisuren, zum Beispiel einen zu einer Kerze hochgetüddelten Zopf mitten auf dem Kopf nachdenken, ich brauche mehr flatternde Gewänder, mehr Ringe, mehr Make-up, mehr „Life is betta with lametta“, „less to do, more ta da“! Sonst bin ich nachher plötzlich klapperig und schaffe es nicht mehr auf die Flohmärkte. Darum grase ich am Sonntag den Marheinekeplatz-Markt ab und drücke mich an einem Schmuckstand herum, der mich an die sprechenden Insektenbroschen der Brooch-Lady Hale erinnert. Aber Schmetterlinge sind keine Vogelspinnen, und ein Hündchen ist kein ekeliger Tausendfüßler. Insofern ist auf der Ex­travaganza-Scala noch Luft nach oben.