Die Macht der Regenschirme

Antiregierungs-Proteste in Hongkong, 29. September 2019 Foto: Tyrone Siu/reuters

Von vielen Menschen missachtet, meistens unterwegs irgendwo liegen gelassen, ist der Regenschirm das vielleicht am häufigsten unterschätzte Machtinstrument. Jemanden im Regen stehen zu lassen ist zwar ein schönes Bild. Aber, face it, die meisten von uns werden ständig im Regen stehen gelassen. Eher selten kommt es vor, dass Passanten ihren Schirm mit einem teilen, wenn man gerade keinen eigenen zur Hand hat. Solcherlei Zärtlichkeiten in nassem Ambiente sind eigentlich dem Hollywood-, manchmal auch dem französischen Problemfilm vorbehalten.

Im Regen stehen gelassen zu werden, ist für gewöhnliche Bürger und Passanten zwar doof, endet aber lediglich in nassen Klamotten und wenn es ganz schlecht läuft, in Reizhusten und verklebten Nasennebenhöhlen. Für Herrschende, Mächtige und Prominente aber kann der Regenschirm eine gefährlichere Waffe sein als so manche Terrordrohung: Natürlich kann der Regenschirm auch als Abwehrrakete gegen Eier- und Tomatenwürfe eingesetzt werden. Aber wenn Menschen von öffentlichem Interesse im Regen stehen gelassen werden, werden sie nicht nur nass und sehen blöd aus, sondern sind Gegenstand lustvoller Spekulationen über die Stabilität ihrer Macht, ihrer Ehe, ihrer Zurechnungsfähigkeit.

Der russische Präsident Putin lässt FIFA-Präsident Infantino und Frankreichs Präsident Macron bei der Fußball-WM 2018 im Regen stehen Foto: Christian Charisius/dpa/picture alliance

Mit genauso Ruhe störendem Medienecho muss rechnen, wer als Mächtiger andere im Regen stehen lässt. Das gehört sich einfach nicht – jedenfalls nicht da, wo noch nach halbwegs demokratischen Regeln gespielt wird.

In Hongkong ist der Regenschirm zum Symbol des Widerstands gegen die Regierung geworden. Vor genau fünf Jahren entstand die Regenschirmbewegung als sich Demonstranten gegen Pfefferspray und Tränengas mit Regenschirmen schützten.

Libyens Staatschef Gaddafi zeigt sich während des Aufstands gegen ihn zum ersten Mal am 22. Januar 2011. Er habe Jugendliche in Tripolis treffen wollen, doch dann sei Regen gefallen Foto: dpa/picture alliance

Und der Philosoph Sören Kierkegaard hortete in seinem Haus eine ganze Armada von Regenschirmen. Er ging bei jedem Wetter spazieren und setzte sich bei der Rückkehr direkt an seinen Schreibtisch – im Regenmantel und unterm Regenschirm. Nur so konnte er offenbar abwehren, dass sich dumme Gedanken einschleichen.

Der Quantenchemiker Joachim Sauer lässt seine Ehefrau, Bundeskanzlerin Angela Merkel, am Tag der Bundestagswahlen vom 24. September 2017 im Regen stehen Foto: Martin Meissner/ap

Wer die Macht – zumindest über sich – haben will, sollte also wissen, wie man einen Regenschirm benutzt. Doris Akrap