Proust auf derb

RECHERCHE Was Körper tun, wie sie empfinden, wie sie versagen: Alan Pauls’ tragikomischer Roman „Die Vergangenheit“

VON CRISTINA NORD

Bevor Rímini überhaupt eine richtige Erektion hat, ist er schon gekommen. Er liegt rücklings auf dem Küchentisch, Nancy beugt sich über ihn, ihre Finger reiben sich „seinen Samen ins Zahnfleisch“, wie er es als junger Mann mit dem Kokain tat. Nancy will mehr, reißt ihn hoch, legt sich bäuchlings auf den Tisch, aber Rímini ist erschöpft. Auf ihr Drängen hin handelt er „wie in einem medizinischen Notfall“, indem er wahllos eine Flasche aus den Einkaufstüten hervorzieht und sie in Nancys Geschlecht schiebt. Dabei beobachtet er die Küche, „die ausufernde Blütenpracht auf dem Resopal der Vorratsschränke, die Geschirrtücher mit Tiermotiven, die Magnetpusteln auf der Kühlschranktür“, bis ihm aufgeht, dass das, was ihm gerade widerfährt, eine Szene in einem Pornofilm sein könnte. Er erkennt „die Ausstattung wieder, das harte Licht, die Hast, mit der die Alltagssituation durch die sexuelle Eskalation gesprengt wird“. Je unbeteiligter er sich fühlt, je weniger er in dem Geschehen aufgeht, umso mehr ähnelt er einem Pornodarsteller, der beim Sex neben sich steht, obwohl „der sexuelle Kreislauf definitionsgemäß der vereinnahmendste und selbstbezogenste aller menschlichen Kreisläufe“ ist.

Über den Umweg dieser Gedanken kehrt die Erregung zu Rímini zurück. Als sie ihren Höhepunkt erreicht, springt die Tür zur Dienstbotentoilette auf, in der das Hausmädchen masturbiert. Über dem Klo hängt ein Kunstwerk, das Rímini sofort als ein Bild Riltses erkennt, eines Malers, den er früher verehrte. Das Bild trägt den Titel „Das trügerische Loch“ und birgt in sich eine wechselvolle Geschichte sexueller Ausschweifungen.

Diese hemmungslose Passage aus Alan Pauls’ „Die Vergangenheit“ ist charakteristisch für den ganzen Roman. Mit unverfrorenem Blick beobachtet der argentinische Autor, was Körper tun, wie sie empfinden, wie sie funktionieren und wie sie versagen; mehr als einmal lässt er, was er so detailreich beschreibt, ins Groteske kippen. Von den Erektionen Ríminis ist oft und ausgiebig die Rede, genauso wie von seiner Schlaflosigkeit, seinen Ohnmachtsanfällen, seinem häufigen Stolpern und Stürzen, vom Herpes an der Lippe von Ríminis erster Frau Sofía oder von den Furunkeln am Leib des Malers Riltse. Pauls’ genauer Blick auf die Körper seiner Figuren bringt einen slapstickartigen Humor hervor, zugleich dringt er in den leicht schummrigen, aber umso spannenderen Bereich menschlicher Existenz vor, in dem die Empfindungen keine reinen Empfindungen mehr sind, weil der Körper zu denken beginnt. Noch in der Derbheit des Ficks auf dem Küchentisch lässt Pauls eine unerwartet subtile Reflexion aufscheinen. „Die Vergangenheit“ schlägt aus diesen dichten Beschreibungen viel Kapital.

Der Roman setzt ein, nachdem Rímini und seine erste Frau Sofía sich getrennt haben. Beide sind zu diesem Zeitpunkt um die 30 Jahre alt. Es war, so die Behauptung der ersten Kapitel, eine auf dem Schulhof gewachsene, von allen Anfechtungen unberührte Liebe. Deswegen erscheint die Trennung rätselhaft – bis man nähere Bekanntschaft mit Sofía schließt. Die drängt unverschämt in Ríminis neues Leben hinein. Rímini lässt’s geschehen, weil er das Neinsagen nicht gelernt hat. Ein Bildungsroman, eine „éducation sentimentale“, ist „Die Vergangenheit“ nicht. Am Ende steht der Held so hilflos da wie am Anfang; zwischendurch lässt er sich treiben.

Konkrete Zeitangaben spart Pauls meist aus, es ist, als fände die argentinische Zeitgeschichte jenseits der Buchseiten statt. Ausführliche Rückblenden halten den Fortgang der Handlung auf, Exkurse verwandeln den Roman in ein Labyrinth der Zeiten.

Pate stand unverkennbar Marcel Proust. „Die Vergangenheit“ ist voller Wiedergänger aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Wenn sich Rímini im Überlandbus an seiner schlafenden Geliebten Vera reibt, klingt an, wie sich Prousts Icherzähler nachts an den Körper Albertines schmiegt. Wie Proust liebt Pauls lange, einschubreiche und zugleich fließende Sätze (für deren Übertragung aus dem Spanischen Christian Hansen besonderes Lob gebührt). Riltse ist ein Anagramm von Estlir, dem Maler, der im Salon der Verdurins ein- und ausgeht. Er hat das Porträt einer Kokotte angefertigt, das bei Proust eine geheime erotische Triebfeder darstellt; „Das trügerische Loch“ spielt, wenn auch sehr viel weniger subtil, eine ähnliche Rolle.

Pauls, 1959 in Buenos Aires geboren, Autor von Filmkritiken, Drehbüchern und bislang fünf Romanen, von denen außer „Die Vergangenheit“ keiner auf Deutsch vorliegt, pokert hoch, wenn er sich auf den französischen Schriftsteller bezieht, denn dessen Reichtum ist nicht zu überbieten. Pauls schützt sich, indem er mit der Referenz spielt, statt sich zu ihrem Sklaven zu machen. Der Unterschied zu Proust ist folgerichtig einer ums Ganze: Dessen Icherzähler setzt alles daran, Zugang zur unter der Gegenwart verschütteten Zeit zu erlangen. Rímini kennt solchen Ehrgeiz nicht. Er bleibt ein Gefangener seiner Vergangenheit, ohne Gegenwart und Zukunft, ein tragikomischer Held.

Alan Pauls: „Die Vergangenheit“. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Klett-Cotta, Stuttgart 2009, 560 Seiten, 24,90 Euro