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Archiv-Artikel

Purzelbäume gegen den Herzschmerz

RETROSPEKTIVE Alain Resnais hat sich in Dokumentationen und Spielfilmen mit den Determinanten des Erinnerns und Vergessens beschäftigt. Das Arsenal-Kino widmet dem französischen Filmemacher eine Werkschau

Alain Resnais ist ein Dirigent des Weltkinos. Seine Filme begründeten die Karrieren vieler Stars

VON HELMUT MERKER

„Du hast nichts gesehen, in Hiroshima … nichts.“ – „Ich habe alles gesehen … alles.“ Eine Männerstimme – eine Frauenstimme, so beginnt das Spielfilmdebüt von Alain Resnais, „Hiroshima, mon amour“ (1958). Sein neuer Film, 54 Jahre später, hat den Titel „Ihr habt noch gar nichts gesehen“.

Verstehen und Erkennen, Erinnern und Vergessen, das ist sein großes Thema von Anfang an; „Toute la mémoire du monde“ – „Alles Gedächtnis der Welt“ heißt sein Werk über die Bibliothèque Nationale. Seine Dokumentarfilme der Fünfzigerjahre wie „Van Gogh“, oder „Guernica“ erinnern an die Arbeiten bildender Künstler oder an die Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager in „Nuit et brouillard“ („Nacht und Nebel“).

Resnais montiert darin Archivmaterial der Alliierten zusammen mit aktuellen Aufnahmen der Lagerruinen von Auschwitz. Der Monolog endet mit der Warnung an uns, „die wir so tun, als schöpften wir Hoffnung, als glaubten wir wirklich, dass all das nur einer Zeit und nur einem Lande angehört, uns, die wir vorbeisehen an den Dingen neben uns und nicht hören, dass der Schrei nicht verstummt“. Anstatt die Todeslager als einzigartiges historisches Phänomen darzustellen, zeigt der Film die weiter wirkende Gefahr. Der Text stammt von Jean Cayrol, selbst ein Deportierter, der sich nachher entlassen fühlte in eine „infizierte, konzentrationäre Welt“, wie Frieda Grafe schrieb. Ein unrühmliches Beispiel dafür lieferte die damalige Bundesregierung, die gegen die Vorführung von „Nacht und Nebel“ bei den Filmfestspielen in Cannes protestierte.

Besondere Spannung

Anders als seine Kollegen von der „Nouvelle Vague“, die sich als Autorenfilmer verstanden, lässt sich Resnais seine Texte von Avantgarde-Autoren schreiben. Daraus wird nie bloße „Verfilmung“ von Literatur, immer entsteht besondere Spannung zwischen Wort, Bild und Musik. „Le Chant du styrène“ mit dem Text von Raymond Queneau etwa zeigt die Produktion von Plastik und reflektiert zugleich das Verhältnis von Alexandrinerversen zu Cinemascope-Bildern.

Sein erster Spielfilm beginnt mit den umschlungenen Körpern zweier Liebender; auf Rücken, Arme, Beine scheint ein Ascheregen niederzugehen, dann wirken sie wie kristallisiert, schließlich sieht man glatte menschliche Haut. Die Verbindung des historischen Unglücks mit dem persönlichen Glück, des Terrors mit Lust und Schmerz deutet bereits der Titel „Hiroshima, mon amour“ an. In Dokumentarbildern der Bombenexplosion und Bildern der erotischen Vereinigung, in langen gleitenden Kamerafahrten und stilisierten schwebenden Sätzen vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart. Die Montage folgt keiner Chronologie, sondern dem Bewusstsein der Figuren und den Fragmenten ihrer Erinnerung.

Das berühmte „Streichholzspiel“ im nächsten Film ist immerhin noch mathematisch logisch zu lösen, aber bei der Frage, ob es in „L’Année dernière à Marienbad“ ein „letztes“ Jahr in Marienbad überhaupt gegeben hat, hilft keine Wissenschaft weiter. „Unwirklich ist das Spiel“, stellt der damalige „second assistant“ Volker Schlöndorff fest. Durch den mysteriösen Schauplatz mäandert die Kamera ebenso wie die raunenden Sätze, „durch diese Flure, durch diese Säle, durch diese Galerien, in diesem Bauwerk einer anderen Zeit, in diesem gigantischen Hotel, luxuriös, barock, wo endlosen Fluren Flure folge; lautlose Leere, überladen von älterem kalten Zierrat, von Getäfel, von Stuck, von geschnitzten Füllungen der Türen, von bleichem Marmor, verblichenen Spiegeln, … von Fluchten von Türen, von Galerien, von Fluchten von Fluren, die wieder in leere Salons führen …“

Auch in „Muriel – oder die Zeit der Wiederkehr“ verwebt Resnais reale und fiktive Ebenen, ohne psychologisch definierte Figuren, ohne kontinuierlich erzählte Geschichten. „Das Ganze ist doch ein Schauspiel, das betone ich lieber, als dass ich versuche, es vergessen zu machen“, erklärt Resnais und setzt damit ein Prinzip der Bildenden Kunst im Film fort. 1929 malte René Magritte eine Pfeife und schrieb auf das Bild: „Ceci n’est pas une pipe“. Dies ist keine Pfeife – aber ein Dokument, das die Beziehung zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit neu interpretiert. Das Werk ist nicht Zeugnis für eine außerhalb seiner selbst befindliche Wirklichkeit, sondern es ist in sich selbst eine Wirklichkeit.

Seine ersten drei Spielfilme (nach Drehbüchern von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet und Jean Cayrol) sorgen für große Bewunderung und verstörte Ablehnung. „Letztes Jahr in Marienbad“ treibt bei den Filmfestspielen in Venedig 1961 die Zuschauer aus dem Kino, gewinnt am Ende aber den Goldenen Löwen. Je nach Standpunkt wird Resnais von der Kritik als formalistisch und unverständlich oder als revolutionär und modern, auf jeden Fall aber als schwierig eingestuft.

Jetzt ist er 90 geworden, sein Werk gehört längst zum Kanon des Weltkinos, und er ist darin einer der großen Dirigenten. Darstellerinnen wie Delphine Seyrig oder Sabine Azéma wurden bei ihm zu Stars. Schauspieler wie Yves Montand als einsamer Revolutionär („Der Krieg ist vorbei“), Jean-Paul Belmondo als Hochstapler, der eine politische Kaste zu Fall bringt („Stavisky“), oder John Gielgud als alkoholbenebelter Schriftsteller, dessen Freunde sich in monströse Fantasiefiguren verwandeln („Providence“), wurden zu Helden im Resnais-Kosmos. Seit den Achtziger Jahren bildet sich seine engste „Schauspielerfamilie“ heraus mit Sabine Azéma und Pierre Arditi sowie André Dussolier und Lambert Wilson. Und in seinem letzten Film versammelt er gleich eine ganze Garde namhafter französischer Schauspieler um sich, die in den Theaterkulissen von Anouilh in Erinnerungen an die Liebe von Orpheus und Eurydice schwelgen.

Die Apotheke des Vaters

Wie Chabrol ist auch Resnais Sohn eines Apothekers, und man kann sich gut vorstellen, dass sich der kleine Alain bei seinem Vater abgeguckt hat, wie aus verschiedensten Ingredienzien etwas überraschend Neues entsteht. So wird bei ihm das Leben ein Roman oder ein Chanson, auch mal Gassenhauer oder Operette, Melodram, science-fiction-Utopie oder Experimentallabor. Zwei korrekt gekleidete Büromänner sitzen am Schreibtisch einander gegenüber, dann balgen sich dort zwei Ratten in Menschengröße im gleichen Outfit, und ein Professor der Verhaltensforschung doziert über die zuweilen mörderischen Anforderungen des Berufslebens („Mein Onkel aus Amerika“, 1979).

In einem Schloss, das die ganze Architektur von Xanadu bis Disneyland, Zirkuszelt bis Frankenstein-Werkstatt, Drogenhöhle bis Besserungsanstalt vereint, mischen sich das Erhabene und das Lächerliche wie in einem Kaleidoskop: jede Bewegung bringt ein neues Muster hervor („Das Leben ist ein Roman“, 1982).

Zwei Liebende tanzen, die Kamera zeigt sie nicht direkt, sondern in Spiegeln vielfach gebrochen, als Traum- und Trugbild, unter gemaltem Sternenhimmel, in künstlicher Studio-Dekoration, abgeschieden von der Welt („Melo“, 1986).

Rauchen oder Nichtrauchen, das ist hier die amüsante Variation vom Zufall als Lebensmaxime bei den amourösen Verwicklungen zwischen neun Personen, allesamt von Sabine Azéma und Pierre Arditi verkörpert. Bei einer der vielen Liebeserklärungen fährt die Kamera in den Studiohimmel, beschreibt eine Kreisbewegung wie eine Sprechblase über Comic-Figuren: wahre und falsche Gefühle, Wünsche und Klischees zerplatzen wie Seifenblasen („Smoking/No Smoking“, 1993).

Vom heiligen Ernst zu den Boulevardstücken – aber mit Grandezza: So mischt Resnais nun in seiner comédie humaine surreale Komik und melancholische Poesie, Ordnung und Chaos, fantastische und stilisierte Schauplätze. Ein Analytiker des Gefühls, der seine Personen durch Irrgärten aus Sex, Lebenslügen und Videokassetten treibt. Also: Vorsicht, „Herzen“ und „Vorsicht Sehnsucht“ („Coeurs“ / „Les Herbes Folles“), aber er lässt sie bei ihrer Glückssuche nie ohne Trost zurück.

Die Azéma behält das letzte Wort. Gegen Geraldine Chaplins Auffassung von der Liebe als kulturelles Phänomen, das die rein biologische Funktion der Arterhaltung habe, singt sie in „Das Leben ist ein Roman“ ein romantisches Glaubensbekenntnis an die Liebe; und als ihr in „Melo“ am Ende das Herz zu zerbrechen droht, schlägt sie trotzig Purzelbäume.

■ Im Arsenal-Kino ab 1. 9., Programm: www.arsenal-berlin.de