Wikinger-Wunder

Es geht auch anders: In Island beschirmt der Staat seine Bürger und nicht die Banken. Damit hat sich die Insel, die bankrott war, wieder hochgerappelt

von Dietrich Krauss

Es ist der erste und einzige Blickfang, wenn man sich Reykjavík nähert. Im bizarren Kontrast zu den geduckten Häusern und den bescheidenen Fischerbooten erhebt sich ein gigantischer und bezaubernder Glaspalast über dem Hafen und dem kleinen Zentrum der Hauptstadt. Die Harpa ist die größte Konzerthalle Skandinaviens. Sie bietet 1.800 Plätze – als wäre ein Ufo gelandet, um die Wikinger zu einem anderen Planeten mitzunehmen.

Die Harpa ist die Unverhältnismäßigkeit in Glas und Beton. Eine aufdringliche Metapher für die verrückte Geschichte vom vermeintlichen Aufstieg, beispiellosen Fall und der erstaunlichen Erholung des Inselstaates. Eine Geschichte, die angesichts der trostlosen Endlosschleife der Krise in Resteuropa immer mehr interessierte Zuhörer findet. Das Land, das 2008 einen der größten Bankencrashs der Geschichte hinlegte, steht inzwischen so gut da wie kein anderes europäisches Krisenland: solides Wirtschaftswachstum (4,5 Prozent), sinkende Arbeitslosigkeit (5 Prozent), stabile Währung.

Aber die wirtschaftlichen Daten sind nur das eine. Im isländischen Krisenlabor scheint auch ein politisches Experiment gelungen zu sein, das die fatale Logik der Euro-Rettungspolitik grundsätzlich in Zweifel zieht. Und das brisante Fragen aufwirft: Wie – man muss also gar nicht Milliarden in die Banken pumpen? Ach, es ist womöglich gar nicht notwendig, aus Sparzwang den Sozialstaat zerstören? Interessant, auch zur marktkonformen Verstümmelung der Demokratie gibt es womöglich eine Alternative?

Kapital aus der ganzen Welt floss nach Island

Genau diese Geschichte erzählt die Harpa. Nichts weniger als das World Trade Center Reykjavíks sollte hier entstehen, als die um die Jahrtausendwende privatisierten Banken auf der Nordseeinsel das große Rad drehten. Mit staatlicher Rückendeckung, Top-Ratings und Spitzenzinsen lockten sie Kapital aus der ganzen Welt nach Island. Die Banken nahmen bei sich selbst Geld auf, um damit, getarnt über Briefkastenfirmen, wiederum Bankanteile zu erwerben. So trieb man mit Scheinkapital den Aktienkurs immer höher. Am Ende war die Bilanzsumme der Banken fast zehnmal so hoch wie die heimische Wirtschaftskraft.

Auch viele deutsche Internetsparfüchse transferierten ihr Geld zu Kauphting und Co, den drei isländischen Geschäftsbanken. Die Geldschwemme wurde mit billigen Krediten an die Bevölkerung weitergereicht und machte manche Isländer so reich, dass schließlich eine private Investorengruppe am Hafen von Reykjavík zum Protzen blies. Oper, Messe, Restaurants, Luxuswohnungen und das neue Hauptquartier der Landesbank sollten in den Himmel wachsen. Doch der Kapitalismus hatte etwas dagegen. Zwei Wochen nach dem Lehman-Crash begannen die Wunderbanken zu kippen. Bevor die isländische Krone in den Keller stürzte, transferierten die Bankiers noch Milliarden ins Ausland, dann kam der Crash.

Nun brauchten die Finanzinstitute, die den Staat und seine Politiker großzügig „unterstützt“ hatten, plötzlich die Hilfe des Staates. Und Island entschied sich für einen unkonventionellen Weg: Während Europa Milliarden um Milliarden in bankrotte Banken pumpte, ließ Island die Finanzinstitute einfach pleite gehen. Die Banken wurden zerschlagen und unter nationale Kontrolle gestellt. Für die ausländischen Forderungen erklärte man sich nicht zuständig. Sie wurden in die Obhut der Gläubiger übergeben, mit besten Wünschen zur freundlichen Resteverwertung. Gleichzeitig zog man einen Schutzwall um die heimische Wirtschaft. Für inländische Guthaben wurde eine staatliche Garantie ausgesprochen, der eigene Bankensektor so weit stabilisiert, dass es keinen Tag gab, an dem die Geldautomaten ihren Dienst verweigert hätten.

Das Kapital reagierte wie überall. Es floh. Die Krone verlor zwischenzeitlich 80 Prozent ihres Wertes. Zurück blieben Arbeitslosigkeit, Überschuldung – und eine gigantische Bauruine. Natürlich waren auch die Investoren des „World Trade Center Reykjavík“ pleite und hatten das Projekt, nach dem Vorbild der Banken, dem Staat vermacht. Der verhängte erst mal einen Baustopp, und so bekamen die Isländer ein pittoreskes Symbol für den Crash. Penetrant wurden sie von dem halbfertigen Betonklotz im Zentrum der Hauptstadt an ihren gescheiterten Höhenflug gemahnt.

Hier wäre die Geschichte zu Ende, wäre Island ein ganz normales Euro-Krisenland. Doch Island nahm eine andere Abzweigung. Die Bauruine ist nicht mehr. Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise kratzte man irgendwie das Geld zusammen, um den Palast in Sparversion fertig zu bauen. Natürlich nicht als Finanzzentrum des Geldadels, sondern den Zeitläufen gemäß als Mehrzweckhalle für das Volk. Hier singen jetzt nicht die Finanzeliten das hohe Lied des Turbokapitalismus, sondern die 1.000 Chöre der Insel. Irgendwie muss man das Haus ja voll bekommen.

Keine tiefen Schnitte ins soziale Netz

Noch verwunderlicher ist die Rolle des Internationalen Währungsfonds (IWF), dem normalerweise die Daumenschrauben nicht schmerzhaft genug sein können. Doch die Lage war eine neue: Island war der erste europäische Sozialstaat nach vierzig Jahren, der die Hilfe der Schocktherapeuten aus Washington benötigte. Die isländische Politik hätte einen Sozialabbau zugunsten einer Bankenrettung nicht vermitteln können. Und der IWF brauchte dringend ein Erfolgserlebnis. Seit seiner desaströsen Krisenpolitik in Südamerika hatte er auf dem ganzen Kontinent Hausverbot, vielleicht deshalb zeigte er sich gegenüber einer traditionsreichen Demokratie konzilianter als andernorts. Und die Isländer verhandelten hart. Keine tiefen Schnitte ins soziale Netz, eine Steuerpolitik, die die Reichen stärker belastet, keine Ausgabenkürzung im Abschwung und Kapitalverkehrskontrollen, um die Kapitalflucht aus dem Land zu stoppen: so ungefähr das Gegenteil von dem, was der IWF und die herrschende Ökonomie sonst als probate Krisenmedizin anbieten.

Aber ein Standard-Kahlschlagprogramm konnte sich das politische Establishment des skandinavischen Wohlfahrtsstaats einfach nicht leisten. Nachdem immer mehr Details über die kriminellen Exzesse des Finanzhypes und den Filz von Politik und Finanzwelt offengelegt wurden, stand die Politik mit dem Rücken zur Wand. Über die vulkanerprobte Insel fegte eine politische Eruption, wie sie Island noch nicht gesehen hatte. Über Monate kamen jeden Samstag für isländische Verhältnisse riesige Menschenmengen vor dem Parlament zusammen und forderten empört Aufklärung. Es brannten Weihnachtsbäume, es klapperten Kochtöpfe.

Die „Kochtopf-Revolution“ fegte schließlich das gesamte Establishment hinweg und spülte mit Jón Gnarr sogar einen Komiker ins Amt des Bürgermeisters. So tief war die Verachtung für die etablierte Politik. „Wir sind wohl das einzige Land, das nicht auf die Finanzmärkte, sondern auf die Mehrheit seiner Bürger gehört hat“, erzählt Islands Staatsoberhaupt Ólafur Ragnar Grímsson bei unserem Besuch. Er habe alle Forderungen der Demonstranten erfüllt. Die Regierung trat zurück, der Chef der Zentralbank und die Finanzaufsicht. Was andernorts als Druck der Straße geschmäht wird, betrachtet Präsident Grímsson als legitimen Ausdruck des demokratischen Souveräns. Und er ist offenkundig sehr zufrieden mit seinem umstürzlerischen Volk. Kein Wunder, er selbst hat den Revolutionssturm einigermaßen unbeschadet überstanden und wurde gerade für eine fünfte Periode im Amt bestätigt.

Grímssons Amtssitz liegt weit draußen, wo man Reykjavík nur noch am Horizont ahnt. Man fährt einfach hin und klingelt und dann öffnet ein Hausdiener. Keine Security, keine Polizei weit und breit. Ein wirklich niedrigschwelliges Kommunikationsangebot. Drinnen gibt er, umrahmt von den Porträts skandinavischer Königshäupter, den Staatschef eines kleinen Lummerlandes. Und ein herrlicher Effekt entsteht, wenn er im feudalen Ambiente mit republikanischem Pathos das Hohelied auf die Demokratie gegen die Finanzmärkte anstimmt. Nach uns kommt das medaillenlose isländische Olympiateam, aber er lässt sich die Chance für einen kurzen Vortrag nicht entgehen. Er habe, sagt Grímsson, der die sozialdemokratische Partei verlassen und eine linksradikale gegründet hat, die Finanzkrise nicht nur als Wirtschaftskrise betrachtet, sondern als fundamentale Krise des politischen Systems. Und diese Krise lasse sich nur mit demokratischen Mitteln lösen. Die Demokratie als Konjunkturprogramm – das klingt im Europa der klandestinen Rettungszirkel wie ein Märchen aus einer besseren Welt. Aber der Mann meint es ernst. Zuletzt stand er ziemlich allein. England und die Niederlande drohten, Island zum „Kuba des Nordens“ zu machen, wenn es nicht zahlen würde. Grímsson hat nicht klein beigegeben. Selbst als das Parlament ein Entschädigungsgesetz verabschiedete, hörte er lieber auf die Demonstranten, die vor seinem Amtssitz ein Referendum verlangten. Er legte sein Veto ein und das Gesetz der Bevölkerung zur Abstimmung vor. Über 90 Prozent lehnten es ab, die nächsten Jahrzehnte für ausländische Anleger zu arbeiten. Auch über ein zweites, vom Parlament abgemildertes Entschädigungsgesetzt ließ er das Volk entscheiden – es sagte erneut Nein.

Tief im Westen, in Grundarfajördur, sprechen wir mit einem Isländer, der ein gutes Beispiel für die neue Zeit ist. Thrainn Jokull Elisson ist von den Färöern wieder hierher gezogen. Die Spätfolgen eines Autounfalls und ein Herzinfarkt haben den Koch zum Frührentner gemacht. Mit Hilfe der Eltern kaufte er sich ein Häuschen, das in Deutschland als besserer Carport durchgehen würde. 50 Quadratmeter misst das typisch isländische Haus mit Wellblechfassade, das er mit seiner Katze bewohnt. Nicht einmal ein richtiger Weg führt zu dem Häuschen auf der grünen Wiese. Aber es ist eben: seins. Als der Crash kam, wuchs die Kreditsumme immer weiter. Dann griff die neue Regierung aus Sozialdemokraten und Grün-Linken ein, die 2009 ins Amt gewählt wurde. „Meine Rente wurde deutlich erhöht“, erzählt Elisson, „viel deutlicher als ich es erwartet hatte. Gleichzeitig wurde die Kreditsumme eingefroren und gedeckelt“. Dass er das Häuschen halten kann, habe er der Regierung zu verdanken.

Wie geht das, mitten in der Krise mehr Sozialleistungen auszuschütten? Also auf zur Finanzministerin Oddny Hardardottir. Auf der Couch im Amtszimmer sitzt ihr Berater, der lange in Karlsruhe studiert hat. Die Ministerin nimmt ohne Scheu ein Wort in den Mund, das man hierzulande nur noch mit abwertendem Appendix hört oder mit abschwächenden Zusätzen: Gleichheit. Sie sagt, mehr Gleichheit, auch im Ergebnis, sei das Ziel ihrer Politik. Deshalb habe man versucht, bei den Kürzungen möglichst die schwächsten zu schonen.

Komplexe Fälle verlangen hochkarätige Experten

Wir finden in Island doch noch eine vergitterte Tür und ein strenges Fotografierverbot: bei der Spezialeinheit für Finanzdelikte, die das Kriminelle um den Crash aufklären soll. 100 Personen, Anwälte und Polizisten, arbeiten hier ausschließlich daran, die Verantwortlichen für das Finanzdesaster dingfest zu machen. Als wir ankommen, sind gerade Dutzende von Kisten aus Luxemburg eingetroffen. Die komplexen Fälle verlangen hochkarätige Experten. Nach und nach hat man sich das Know-how aufgebaut, langsam werden die Zeugen auskunftswilliger. Sie trauen sich, gegen ihre Chefs auszusagen, weil deren Macht schwindet, sagt der zweite Mann der Behörde, der aussieht wie ein Anwalt aus einer US-Fernsehserie. Doch, man könne schon mithalten mit den Anwälten der Gegenseite und genieße auch gewisse Privilegien. So wurde das Bankgeheimnis für alle Delikte im Zusammenhang mit dem Finanzcrash aufgeboben.

Die Aufklärung der Exzesse soll das Vertrauen des Volkes ins System wieder herstellen. Schon nach zwei Jahren sitzt man wieder selbst im Cockpit, verabschiedet den IWF wieder von der Insel, mit einer hochkarätigen Konferenz von Wissenschaftlern, die, sie erraten es, in der Harpa zusammenkamen, um der Welt vom isländischen Wunder zu berichten. Dem Wunder eines Neubeginns nach einem Totalabsturz, das so ziemlich alle zentralen Koordinaten der herrschenden Krisenökonomie in Frage stellt. Selbst der IWF, der sich die Austeritäts- und Privatisierungspolitik auf die Fahnen geschrieben hat, lobt Island als Beispiel für einen alternativen Weg aus der Krise. Oder lobt, anders gesagt, den Ungehorsam und die Eigenwilligkeit der Wikinger, die sich weigerten, die Standardrezepte brav abzuarbeiten.

Dietrich Krauss ist Redakteur beim Südwestrundfunk. Jüngst war er mit einem Filmteam in Island, um dort einen Beitrag für das ARD-Wirtschaftsmagazin plusminus zu drehen.