Der Bahnhof der traurigen Träume

Mitten in der Stadt und doch im Niemandsland: Rings um den neuen Hauptbahnhof breiten sich großflächig Monotonie und Leere aus. Sie in eine Beziehung zu setzen zu dem großmannssüchtigen Bau aus Stahl und Glas ist eine echte Herausforderung

VON WALTRAUD SCHWAB

Der unfertige Hauptbahnhof ist eine Zwischenwelt. „Gegenwärtig und zukünftig zugleich“, sagt ein Mann mit schlohweißem Haar, der genau deshalb gern hierher kommt. „Der Bahnhof passt zu meinen Gedanken.“ Welche das sind, will er nicht sagen. Melancholische? „Ja, sicher.“ Auch seinen Namen will er nicht nennen, weil das Anonyme besser zum Unfertigen passe. Wenn er diesen Ort besucht, setzt er sich auf die Bank auf dem Bahnsteig der S-Bahn. Sie ist bequem, elegant sogar, aus Holz in modernem Design, nur fällt das nicht auf. Denn ringsherum lagern Stapel von Zementsäcken unter blauen Plastikplanen, glänzen vergitterte Zugänge zu etwas, was noch keinen Namen hat, sind Treppen, die niemand begeht, mit Holzplanken verschalt, blockieren Absperrungen die Sicht auf versprochenen Glanz: Rolltreppen, Infocenter, Schaufenster.

Der Mann dreht eine Limonadenflasche zwischen den Fingern und blickt auf in die regenschweren Wolken über Berlin. Dorthin, wo die beiden verbliebenen stählernen Gerüste, Himmelsleitern gleich, in die Luft ragen. Darauf Bauarbeiter, angeseilt wie Kletterer, unruhig und zielbewusst wie Ameisen. „Die arbeiten an was“, sagt der Alte. Er kommt öfters vorbei, um zu sehen, wie weit der Bahnhof gediehen ist. „Gediehen“, sagt er – als wüchse das Monstrum ganz von allein.

Auch auf dem gewaltigen Glasdach zwischen den Türmen sind Arbeiter zu erkennen. Sie bewegen sich entlang der symmetrischen Konstruktion, die, transparent und kristallin, das Weite des Bahnhofs zusammenhält, es von außen betrachtet jedoch nicht grandios erscheinen lässt, sondern kriechend: Raupe, Chamäleon, Gürteltier. Wenn die Bürobügel fertig gestellt sind, wird es aussehen, als suche das Sich-Windende eine karstige Höhle.

„Das hab ich alles schon einmal erlebt“, seufzt der alte Mann und nimmt einen Schluck aus der Flasche. Als der Zug nach Schönefeld einfährt, steht er auf und steigt ein.

Die S-Bahn-Züge, die einzigen, die im unfertigen Hauptbahnhof schon halten, sind zu klein, ihr Geräusch viel zu leise angesichts des gigantischen Bauwerks, das da zwischen Bundeskanzleramt, Reichstag und das Moabiter Ödland gesetzt wird. Ein Koloss ist der Bau, ein Monstrum, ein Ungetüm. Auch das Bild von Goliath drängt sich auf. Ein Bahnhofsgoliath. Der alte Lehrter Stadtbahnhof, denkmalgeschützt, war der David. Moderne Planung ist seiner Steinschleuder überlegen. Selbst das biblische Hochgefühl ist auf dieser Baustelle nicht mehr gültig.

Es wirkt, als werde an diesem Ort, mitten in Berlin, noch einmal die Synthese aller großmannssüchtigen Zukunftspläne, die nach dem Mauerfall gemacht wurden, in der tausendstimmigen Symphonie der Bauarbeiter vorgeführt: Schweißen, Schleifen, Hauen. Helles Holz, geschlagen auf leichtes Metall. Hämmern, Sägen, Klopfen. Harter Stahl, geschlagen auf schweres Eisen. Dazu das zärtliche Zischen der neu einfahrenden Stadtbahn, diesmal nach Ostkreuz. Sie gibt dem Ort eine Bestimmung, die nicht passen will. Als führe hier eine Modelleisenbahn ein, doch ganz im wirklichen Leben.

In ihrer Fahrtrichtung gibt der Bahnhof den Blick frei auf all jene Versprechungen Berlins, die, wer ankommt, auch sehen will: Fernsehturm, rotes Rathaus, die Kuppel des Doms. Näher als in diesem Moment rückt die Stadt nie heran.

Eigentlich möchte, wer an einem Hauptbahnhof aussteigt, im Zentrum der Stadt sein. Wie eine Offenbarung soll sich der Ort vor dem Auge ausbreiten, mit seinem Pulsieren einfangen, mit seinem Herzschlag verführen. Es muss nicht schön sein, aber leidenschaftlich.

Davon ist das, was sich im Berliner Bahnhofsniemandsland tut, weit entfernt. Wer jetzt die Treppen der S-Bahn hinabsteigt, wird eingefangen von dem Stahlträgerwald, der auf Sand gebaut ist. Das einzige Versprechen: ein Plakat unter dem mächtigen stählernen Gewölbe, das beim Hinuntergehen den Blick auf zwei Worte freigibt: „Mitte Meer“. Der azurblaue Hintergrund löst die Sehnsucht aus, eingefangen zu werden vom Licht.

Unter dem Plakat steht einsam ein Bäckerwagen. Bauarbeiter unterhalten sich an der Theke. „Ja, es ist großartig, auf diesem Bau zu sein.“ Warum? „Weil er groß ist.“ Etwas abseits sitzen Kletterer auf ihrer Bergsteigerausrüstung. Auch sie arbeiten hier, sagen wollen sie nichts. Entlang dem Bauzaun, der die Passanten zur Straße führt, wo hin und wieder ein Bus hält (nur wann?), wachsen Wildblumen: Leinkraut, Königs- und Nachtkerzen, Frauenmantel, Schafgarbe – alles, was heilt.

Rund um den Bahnhof ist nichts, was einer Stadt gleichkäme. Heidestraße heißt, was direkt bis an ihn heranreicht. Der Name steht ihr. „Heide, eine Pflanzenformation von Zwergsträuchern, Gräsern und Kräutern auf den nährstoffarmen Glazialböden des norddeutschen Tieflands“, erklärt das Straßennamenverzeichnis. Das Nährstoffarme ist hier in Architektur umgesetzt: Nur Lagerschuppen gibt es, Umschlagplätze, Abstellflächen, Werbung und alte, mitunter nicht mehr befahrene Gleise. Schon früher waren hier Bahnhöfe – der Lehrter Bahnhof, der Hamburger Bahnhof – die Geschichte hat sie ihres Zweckes beraubt. Wer die Heidestraße entlanggeht, wird umkehren, weil er ein Ziel nicht erkennen kann. Zieht er doch weiter, kommt er im Wedding an.

Die Lehrter Straße, die ebenso zum Bahnhof führt, hieß früher Torfstraße. Das Öde ist ihr geblieben. Ganz in der Nähe des neuen Verkehrsknotenpunktes stehen Wohnhäuser der 70er-Jahre. Wer weitergeht, kommt am backsteinernen Frauengefängnis vorbei. In Richtung Alt-Moabit gilt es erst recht, eine Hürde zu nehmen. Dort steht die große Haftanstalt direkt am Weg.

An den Kreuzungen zu diesen Straßen, im Schatten einer alten Mauer, die einst ebenfalls Gefängnis war, standen jene Zaungäste, die stundenlang in die Luft starrten, als die ersten beiden in den Himmel gereckten Stahlgerüste über dem Bahnhof heruntergelassen wurden, um zur Brücke zu werden. Ein Mann filmte das Geschehen trotz Gewitters die ganze Nacht. Sechs Meter bewegte sich das Stahlgerippe in der Stunde. Trotzdem: „Dramatisch“ sei es gewesen. „Wagnerisch.“ Für so was sind die Berliner zu haben. „Station Größenwahn“ nannte ein anderer das Bauwerk und fügte übernächtigt „gewaltig“ hinzu.

Auf der Südseite der Gleistrasse öffnen sich vor dem Besucher, der irgendwann die große Freitreppe hinabsteigen wird, bis auf weiteres leere Grundstücke, unbebaute Flächen, die den Blick freigeben auf das Kanzleramt, die Parlamentsgebäude, den Reichstag. Das soll Berlin sein?

Mit etwas Glück werden die, die die Stadt wirklich lieben, weil es die ihre ist, sich des Ortes annehmen – wie schon so oft. Vielleicht wird einer die Mauer und ein anderer die Wiedervereinigung auf einer der Brachen im Kleinen nachbauen. Damit, wer ankommt, versteht, was Berlin ausmacht.

So weit ist es noch nicht. Noch kann, wer hier aussteigt, nur wieder zurückgehen, die Treppe zum Bahnsteig hochsteigen, weiterfahren zur Friedrichstraße oder zum Zoo. Vorbei an Mitte und Meer.