Es geht um die Wurst

Stabhochspringerin Jelena Isinbajewa verficht die Salamitaktik und steigert sich nur scheibchenweise – aus Kalkül

HELSINKI taz ■ Es gibt da dieses Foto, auf dem Jelena Isinbajewa ihre rechte Hand hebt und man sehen kann, dass ihre Handfläche ganz schwarz ist, so als hätte sie mit Kohlen gespielt. Aber das ist nicht das Wesentliche des Fotos, sondern vielmehr, dass die freundlich lächelnde Frau ihre fünf Finger abspreizt. Das Foto wurde am 22. Juli in London geschossen, und über die Höhe, die Isinbajewa (23), wohnhaft in Wolgograd und Olympiasiegerin im Stabhochsprung, an diesem Tag überquert hat, hat sie gesagt: „Die erste Frau, die die fünf Meter schafft, wird eine Legende sein.“ Nun, da sie gerade eben zur Legende geworden war, verkündete sie: „Das war ein historischer Sprung.“

Jelena Isinbajewa hat also keine Probleme damit, ihre Leistungen einzuschätzen, und wenn das auch bei dieser Weltmeisterschaft in Helsinki so bleibt, dann kann es am Freitagabend irgendwann gegen acht nur eine Weltmeisterin geben. Jedenfalls hat sie, lange bevor sie nach Finnland kam, Folgendes geäußert: „Ich will Weltmeisterin werden und 5,01 Meter springen.“ Prima ins Schema passen würden beide Vorhaben. Für den Titel gibt es in Helsinki 60.000 Dollar, für einen Weltrekord obendrein 100.000. Normalerweise lässt sich Isinbajewa eine solche Belohnung nicht entgehen, da ist sie ganz Geschäftsfrau.

An der Schallmauer

Gelernt hat sie das von ihrem Vorbild, dem russischen Stabhochspringer Sergej Bubka. Auch Landsmann Bubka ist ja eine Stabhochsprung-Legende, zwanzig Jahre vor Isinbajewas Quantensprung war er der erste Mann, der die Sechs-Meter-Schallmauer überquerte. 35 Weltrekorde hat Bubka in seiner Karriere aufgestellt, scheibchenweise, also um je einen Zentimeter, übertraf er sich immer wieder selbst. Bis zur heute noch gültigen Bestmarke von 6,15 Meter hat es der Russe gebracht – und damit zu einem netten Vermögen, auch er ließ sich für jeden einzelnen seiner Rekorde fürstlich entlohnen.

Als Isinbajewa von ihrer Mutter zum ersten Mal zu Jewgeni Trofimow, ihrem Trainer, geführt wurde, so erzählt es eine Geschichte, hatte sie von diesem Bubka noch nie etwas gehört. Wie sollte sie auch, sie war doch Rhythmische Sportgymnastin. Allerdings eine zu groß geratene, deshalb hatten sie die Trainer zu Trofimow geschickt. „Jewgeni“, erinnert sich Isinbajewa, „hat mich dann bei unserem ersten Treffen gefragt, ob ich weiß, wer Sergej Bubka ist. Ich sagte: Nein. Egal, hat Jewgeni geantwortet und gesagt, dass ich eines Tages so springen werde wie dieser Bubka.“ Isinbajewa lacht, wenn sie diese Geschichte erzählt, und plötzlich kommt man ins Grübeln, ob sie nicht vielleicht doch ein wenig flunkert. Aber das ist egal, denn selbst wenn Jewgeni den Satz nie gesagt hat, so hat er doch zumindest in der schönen Geschichte Recht behalten. Isinbajewa ist längst der weibliche Bubka, und das nicht nur, weil auch sie die meisten ihrer bisher 16 Weltrekorde nach der Salamitaktik verbessert hat, sondern auch, weil sie Bubka „in der zweiten Flugphase des Sprunges durchaus ähnlich“ ist, wie sie selbst findet. Wie es weitergehen soll mit ihr und dem Stabhochsprung, hat sie mit ihrem Vorbild übrigens längst festgelegt. „Er will, dass ich seine Weltrekordmarke breche“, sagt die Russin. Zwanzig Rekordsprünge fehlen ihr dazu noch, doch sie lässt sich davon nicht entmutigen. „In drei, vier Jahren ist es zu schaffen. Ich muss es nur wie er machen: Zentimeter für Zentimeter“, sagt Jelena Isinbajewa und lacht. Gut möglich, dass sie heute in Helsinki bei der Weltmeisterschaft damit beginnt.

FRANK KETTERER