Der gefeierte Mann

VON DIRK KNIPPHALS

Deutschland hat ab sofort einen Nationaldichter: Thomas Mann. Das legen die umfangreichen Feierlichkeiten zum heutigen 50. Todestag des Großschriftstellers nahe. Vor allem der Festakt, der morgen in Manns Geburtsstadt Lübeck stattfindet, wird Züge eines Staatsaktes annehmen. Die Presseagentur AP meldet, dass sich „die wichtigsten Vertreter der Politik und Literatur“ derzeit in die Hansestadt „drängeln“. Bundespräsident Horst Köhler wird dem Autor der „Buddenbrooks“ und weiterer Werke der Weltliteratur seine Reverenz erweisen: bisheriger Höhepunkt einer Annäherung zwischen den Sphären des Staates und der Kultur, die sich bereits seit einigen Jahren abzeichnet. Vor allem das Schillerjahr zum 200. Todestag des Klassikers wurde von Politikern genutzt, um sich als kulturinteressiert zu präsentieren.

Diese Nähe ist in der Bundesrepublik ein neues Phänomen. Ihre Geschichte war bislang eher von wechselseitiger Skepsis, wenn nicht sogar von Feindschaft zwischen Politik und Literatur geprägt. Berühmt ist der Ausspruch „Ratten und Schmeißfliegen“, mit dem zeitgenössische Schriftsteller in den Sechzigerjahren geschmäht wurden. Von konservativer Politikerseite gepflegt wurde höchstens eine weihevolle Klassikerverehrung, spätestens von der studentenbewegten Literaturszene als nicht mehr zeitgemäß angesehen und als Bestandteil eines obrigkeitsstaatlichen Weltbildes verdächtigt. Solche Berührungsängste sind offenbar passé.

Dass nach Friedrich Schiller nun Thomas Mann der deutschsprachige Schriftsteller werden konnte, auf den sich alle einigen können, ist nicht verwunderlich, aber auch nicht selbstverständlich. Bis heute ist er Schullektüre, aber das ist Franz Kafka auch. Nur ist der große Prager Autor kein Deutscher – weshalb er von der deutschen Politik nicht vereinnahmt werden kann. Robert Musil ist Österreicher und gilt wie auch Friedrich Hölderlin als zu schwierig. Brecht ist zu sehr mit dem Sozialismus verbunden. Bei Heine fehlen die dicken Schmöker. Und bei Goethe fehlt der aktuelle Anlass, sein 200. Todestag fällt ins Jahr Jahr 2032.

Thomas Mann war schon immer der repräsentativste deutsche Autor des 20. Jahrhunderts, Inszenierungswille und literarische Geltung kamen bei ihm zusammen. Zudem besitzt gerade der „Zauberer“, so sein Spitzname in der Familie, in der gegenwärtigen Kulturszene durchsetzungsfähige Fürsprecher. Deutschlands bekanntester Literaturkritiker zieht regelmäßig alle Register, wenn es gilt, die Erzählkunst Manns zu rühmen. Für das Feuilleton der FAZ stellt er so etwas wie einen Hausheiligen dar. Und Heinrich Breloer hat eine Fernsehdokumentation gedreht, die die Popularität Manns verstärkte.

Der Spott, der Thomas Mann auch lange Zeit begleitet hat, ist hingegen verstummt, seitdem die posthum veröffentlichten Tagebücher einen Blick hinter die repräsentative Fassade des Autors freigaben und radikalere Erzählansätze nicht mehr vom Avantgardebonus profitieren.

Und woher kommt die gesuchte Nähe seitens der Politik? Horst Köhler, der Bundespräsident, hat kürzlich angeregt, ganze Theaterstücke von Klassikern auf die Bühnen zu bringen, ungeachtet von Aufführungsdauern von über fünf Stunden. Eine ähnliche Kulturbeflissenheit kann man auch bei seinem Einsatz für Thomas Mann annehmen. Die Verbindung einer modernen Wirtschaftspolitik mit einer traditionellen Sicht auf Kultur hat bei konservativen Politikern Tradition; die Kultur soll nach dieser Ansicht helfen, die Sinndefizite auszugleichen, die die moderne Wirtschaft hinterlässt.

Ob aber bei Thomas Mann diesbezüglich Sinnpotenziale abzuschöpfen sind, kann man hinterfragen. Es ist vor allem seine alle Sinnzusammenhänge hinterfragende Ironie, die ihn aktuell bleiben lässt. Und das berühmte Kapitel „Ewigkeitssuppe und plötzliche Klarheit“ des Romans „Zauberberg“ schildert, dass der Held Hans Castorp vor allem aus Widerwillen gegen das Rattenrennen in seinem bürgerlichen Beruf in die Davoser Lungenklinik flüchtet. Ob das Herrn Köhler wirklich gefällt?