Auslieferungsgesetz vom Tisch

Hongkongs Regierung zieht umstrittenen Gesetzentwurf offiziell zurück – ohne weitere Zugeständnisse

Von Sven Hansen

Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam hat am Mittwoch den wochenlangen Massenprotesten nachgegeben und den Entwurf des umstrittenen Auslieferungsgesetzes vollständig zurückgezogen. „Die Regierung wird das Gesetz in aller Form zurückziehen, um die Sorgen der Bevölkerung vollständig zu entkräften“, erklärte Lam am Abend in einer knapp fünfminütigen Videobotschaft, die sie nach einem Treffen ihres Kabinetts mit pekingtreuen Abgeordneten abgab.

Die vollständige Rücknahme des Gesetzes war eine der fünf Forderungen der Protestbewegung. Der Gesetzentwurf hatte die Demonstrationen ausgelöst. Hongkonger fürchten, das Gesetz könnte zu Auslieferungen an Chinas nicht rechtsstaatliche Justiz führen und die Autonomie der Stadt untergraben.

Lam hatte den Gesetzentwurf bereits im Juni für „tot“ erklärt, sich aber stur geweigert, ihn vollständig zurückzuziehen. Deshalb gingen die Proteste nicht zurück, vielmehr weiteten sich die Forderungen aus. So wird längst auch Lams Rücktritt gefordert sowie eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt gegen Demonstranten, die Freilassung der mehr als 1.100 bisher Festgenommenen sowie die Rücknahme des Vorwurfs von Aufruhr. Über allem schwebt die Forderung nach echten demokratischen Reformen, welche die Regierung in Peking verweigert.

Lam gab den anderen Forderungen nicht nach. Sie hält weiter daran fest, die Polizeigewalt nur von der bisherigen Kommission für Beschwerden über die Polizei untersuchen zu lassen, erweiterte diese aber um zwei Mitglieder. Lam sprach aber von Dialog, ohne zu sagen, wie der aussehen könnte. Auch sollen die sozialen Ursachen der Massenproteste, wie hohe Mieten und Landknappheit sowie die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher, untersucht werden. Absolute Priorität hat für Lam die Beendigung der Gewalt.

Der pekingtreue Abgeordnete Michael Tien bezweifelte in einer ersten Reaktion, dass Lams Kehrtwende die Proteste beenden werde: „Ich glaube, der Rückzug des Gesetzes könnte zu wenig und zu spät sein.“ Der Aktivist Joshua Wong, Führer der früheren Regenschirmbewegung, sagte, die Welt müsse „auf der Hut vor dieser Taktik sein“ und dürfe sich „nicht von Hongkong und der Regierung in Peking betrügen lassen“. Wong erklärte: „Sie haben keine Zugeständnisse gemacht. Es wird hart durchgegriffen.“

Wong hatte zuvor Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aufgefordert, sich bei ihrem am Donnerstag beginnenden China-Besuch für Hongkongs Protestbewegung einzusetzen. In einem offenen Brief an Merkel warnte er vor einer Eskalation. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Mittwoch in Berlin, der Konflikt müsse gewaltfrei beigelegt werden auf der Basis der Gesetze und Freiheiten, die für Hongkong gelten. Auf die Frage, ob Merkel zu einem Treffen mit Führern der Proteste in Hongkong bereit sei, sagte Seibert, er könne nichts Neues über die Reisepläne der Kanzlerin mitteilen. Merkel besucht während ihrer Reise bis Samstag Peking und das zentral­chinesische Wuhan.