Die Frage der Solidarität

Eine Woche nachdem Bürger­meister*innen in kurdischen Städten abgesetzt wurden, ringt die kemalistische Opposition um eine klare Haltung

Die HDP-Abgeordnete Feleknas Uca vor dem Rathaus in Diyarbakır Foto: Murat Bay

Aus Diyarbakır Figen Güneş

In der Notaufnahme eines Krankenhauses in Diyarbakır liegt eine Parlamentsabgeordnete: Ayşe Acar Ba­şa­ran, HDP-Abgeordnete von Batman, erlitt beim Polizeiübergriff vergangene Woche eine Kopfverletzung. Gleich neben ihr liegt Feleknas Uca, HDP-Abgeordnete von Diyarbakır, die auf derselben Kundgebung zusammengeschlagen wurde. Uca hält ihr linkes Bein und erzählt, wie sie und andere nach der Absetzung der Bürgermeister vor dem Rathaus von Sicherheitskräften eingekesselt wurden. Ein Polizeibeamter habe zu ihr gesagt: „Du bist nicht meine Abgeordnete. Ich bin der Staat.“ Darauf seien Streit und Schläge gefolgt.

In den kurdischen Metropolen Diyar­bakır, Mardin und Van im Südosten der Türkei wurden Montagmorgen vor einer Woche die Bürgermeister*innen abgesetzt. Sie sind allesamt HDP-Politiker*innen, die bei den Kommunalwahlen am 31. März gewählt wurden. Ihre Ämter hat das Innenministerium an Gouverneure übertragen.

Begründet wurde das Vorgehen damit, dass die Bürgermeister*innen Terrororganisationen unterstützten würden. Am selben Tag fanden in 29 Städten Razzien gegen die HDP und andere kurdische Parteien und Gruppen statt. 418 Personen wurden in Gewahrsam genommen. Die HDP rief daraufhin zu Protesten auf. Die Polizei begegnete diesen mit Gewalt, mit Wasserwerfern und Pfefferspray. Seither kontrolliert sie auch Einfahrtsstraßen in die betroffenen Städte. In Diyarbakır wurden auch alle zum Rathaus führenden Straßen gesperrt. Bei den Protesten, die außer in Diyarbakır, Van und Mardin auch in zahlreichen anderen Städten wie Istanbul, Izmir und Ankara stattfinden, wurden hunderte Demonstrant*innen festgenommen.

Luxus statt Dienstleistung für die Bevölkerung

Die Einsetzung eines Zwangsverwalters ist weder für die HDP noch für die betroffenen Städte eine neue Erfahrung. Auch während des Ausnahmezustands nach dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 waren 95 der insgesamt 102 HDP-regierten kurdischen Stadtverwaltungen unter Zwangsverwaltung gestellt worden. Die Provinz Diyarbakır wurde drei Jahre lang auf diese Weise regiert.

In diesen drei Jahren der Zwangsverwaltung hatten sich Van, Diyarbakır und Mardin um knapp 3 Milliarden Lira verschuldet. Während die Zwangsverwalter einerseits große Beträge für die pompöse Gestaltung ihrer Amtssitze ausgegeben hatten, wurden andererseits Ausgaben für die Bevölkerung gekürzt. Da die Zwangsverwaltung die Stromrechnungen nicht bezahlt hatte, wurde der Stadtverwaltung von Mardin der Strom abgestellt. HDP-Co-Bürgermeister Selçuk Mızraklı fotografierte ein Luxusbad im Rathaus von Diyarbakır und veröffentlichte die Aufnahme.

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Obwohl Mızraklı bei den Kommunalwahlen am 31. März 63 Prozent der Stimmen erhalten hatte, konnte er nur 143 Tage im Amt bleiben. Präsident Recep Tayyip Er­do­ğan hatte schon Monate vor den Kommunalwahlen, im Oktober 2018, gesagt: „Wenn diejenigen als Sieger hervorgehen, die Verbindungen zum Terrorismus aufweisen, werden wir mit Zwangsverwaltern weitermachen.“

Laut der HDP-Abgeordneten Başaran fanden Erdoğans Drohungen und Bemühungen jedoch keinen Akzeptanz in der Bevölkerung: „Die Bevölkerung sagt: ‚Selbst wenn unsere gewählten Vertreter eine Stunde im Amt bleiben können, geben wir ihnen unsere Stimmen.‘“

Dass die abgesetzten Bürger­meis­te­r*in­nen nun schon wieder durch Gouverneure ersetzt wurden, entbehrt jeder rechtlichen Grundlage. Die auf der Grundlage des Dekrets Nr. 674 erfolgte und nachträglich legalisierte Berufung von Gouverneuren zu Bür­ger­meis­te­r*in­nen ist verfassungs- und rechtswidrig. Der in Diyarbakır eingesetzte Gouverneur hat am ersten Tag in seiner neuen Funktion 39 Mitarbeiter entlassen.

İhsan Güner*, ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung, erzählt, dass er 2006 in der Stadtverwaltung eingestellt und dort gearbeitet habe, bis er durch die 2016 eingesetzte Zwangsverwaltung entlassen wurde. Nach fünfzehn Monaten Arbeitslosigkeit konnte Güner nach der Wiederwahl der HDP seine Arbeit wieder aufnehmen. Jetzt aber ist er wieder arbeitslos.

Obwohl seit den Razzien einige Tage vergangen sind, ist bisher kein einheitlicher politischer Block gegen die Zwangsverwaltungen entstanden. Wie effektiv ein solcher Block sein könnte, hat man bei den Kommunalwahlen am 31. März und bei der wiederholten Bürgermeisterwahl in Istanbul gesehen. Die HDP hatte in zahlreichen türkischen Metropolen keine eigenen Kandidaten aufgestellt und ihre Wähler dazu aufgerufen, die CHP zu wählen.

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Diese Taktik war am Ende in Istanbul, der bevölkerungsreichsten Stadt der Türkei, wahlentscheidend. Nach der zunächst annullierten Bürgermeisterwahl in Istanbul hatte der CHP-Kandidat Ekrem İmamoğlu den zweiten Durchgang mit einem Abstand von mehr als 800.000 Stimmen gewonnen.

Kommt eine Bewegung zustande?

Jetzt, nachdem ihre Bürgermeister*innen abgesetzt wurden, fühlt sich die HDP allein gelassen. Die HDP-Co-Vorsitzende Pervin Bul­dan forderte die CHP auf, ihr Schweigen zu brechen. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu dagegen hat in einer Rede am vergangenen Mittwoch die Einsetzung von Zwangsverwaltern zwar kritisiert – aber gleichzeitig gesagt, er finde es nicht richtig, gegen diese rechtswidrige Entscheidung auf die Straße zu gehen.

Politiker*innen der HDP und CHP vermuten, dass es als Nächstes die Stadtverwaltungen der CHP treffen könnte. Derweil hat Muharrem Ince, der ehemalige Präsidentschaftskandidat der CHP, die in Mardin abgesetzten Bürgermeister Ahmet Türk in Figen Altındağ besucht. Es gibt verbale Solidarisierungen. Aber die entscheidende Frage ist, wie ernst diese gemeint sind. Und ob sie politische Schlagkraft entwickeln werden.

Die Abgeordnete Başaran sagt in ihrem Krankenhauszimmer, die Gewalt gegen sie sei kein Zufall gewesen: „Sie versuchen, die demokratischen Proteste der Bevölkerung zu unterdrücken.“ Die staatliche Gewalt habe aber nicht bewirken können, die Menschen vom Protestieren abzubringen.

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Eine große Gruppe, in der sich auch Politiker*innen befinden, betritt in diesem Moment die Notaufnahme. In den Krankenhausgängen hallt eine Parole wider: „Amed, steh auf und nimm deinen Willen in Schutz!“

* Name von der Redaktion geändert

Aus dem Türkischen von Levent Konca