„Sind se weg, Schulzi?“

Nicht nur reden, sondern auch etwas tun wollten Teilnehmer der Attac-Sommeruni in Göttingen und marschierten vor einem Lidl auf. Doch die Angestellten können mit der Solidarität nichts anfangen

aus Göttingen Denis Bühler

An dem verlassen wirkenden Godehard-Gymnasium in Göttingen rollt der morgendliche Berufsverkehr vorüber. Drinnen sollen sich die 600 Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Attac-Sommerakademie verteilen. Doch wo sind sie nur alle? Im Vorhof sind vier Fahrräder angekettet, auf einem Pappschild ist mit Kugelschreiber der Weg zum Attac-Zirkuszelt ausgewiesen. „Die sind alle in ihren Seminaren“, sagt eine der drei Helferinnen, die an diesem Donnerstag in der Eingangshalle Stellwände und Bücher bewachen.

Durch Treppenhäuser und Flure – nur Kunst-Arbeiten der 10b zieren die Wände – führt der Weg zu Werner Rätzens Vertiefungsseminar „Es ist genug für alle da“, eine von einer unüberschaubaren Vielzahl von Veranstaltungen.

Rolf – man duzt sich – hält gerade ein Referat. Rolf Künneman hat bei der Menschenrechtsorganisation „Fian“ einen Vorschlag erarbeitet, wie eine Einkommensgrundversorgung zu bewerkstelligen wäre. Schicke karierte Hosen und blassgelbes Hemd, der Mann spricht wie ein Profi. Er ist wie die meisten hier auf der Sommerakademie längst aus dem Studentenalter heraus. Im Seminar sehen von 20 Anwesenden gerade einmal vier so aus, als seien sie jünger als 30 Jahre.

Alle sind konzentriert bei der Sache, nur Hanni nickt manchmal ein. Werner moderiert das Seminar, wallendes weißes Haar und eine freundliche Stimme sind sein Markenzeichen. „Und morgen gibt’s dann das Seminarprotokoll von den Teilnehmern. Die machen das heute Nachmittag“, verkündet er stolz.

Auch auf dem Zeltplatz, in den Turnhallen, wo die meisten Besucher schlafen, im Hauptgebäude des Gymnasiums – eine Atmosphäre konzentrierten Arbeitens. Überall stecken Teilnehmer von Diskussionsgruppen die Köpfe zusammen. In der Cafete gibt es neben selbst gemachtem Kuchen Che Guevara-Poster, Make Love – Not War-Buttons und die gesammelten Briefe des Anarchisten und Philosophen Michail Bakunin zu kaufen.

Am gestrigen Freitag merkt dann plötzlich auch Göttingen, dass die versammelten Globalisierungskritiker von Attac sich für eine Woche in der Stadt versammelt haben. Gegen dreizehn Uhr stehen plötzlich hundert Demonstranten vor dem Lidl in der Annastraße im Norden der Stadt. Drei steigen mit einer Leiter aufs Dach der Filiale und rollen ein Banner aus – „Lidl ist billig, aber auf Kosten anderer“.

Eine Frau mit Megafon liest von einem Zettel ab, wie Lidl Angestellte gemobbt habe. „Die Aktion ist der Startschuss für Proteste in ganz Deutschland“, ruft sie ins Mikrofon. Dann singen die Demonstranten. Die meisten wirken ein wenig scheu. Eine Gruppe Verkleideter stürmt in die Filiale, sie tragen Lidl-Schürzen, Kopfbinden, einen Wischmob – und einen Blumenstrauß. Den wollen sie einer Kassierin schenken. Aber die lehnt ab. „Also ich find das übertrieben“, sagt eine andere Kassierin. „Wenn Lidl anderswo Mitarbeiter mobbt, dann ist das natürlich schlimm“. Aber hier sei das nicht so. Und mit ihrer Aktion würden die Attac-Leute bloß die Kunden vergraulen. „Und das schadet dann wieder uns“, so die Frau. Draußen hat die Polizei inzwischen die Demonstranten vom Dach geholt und die Personalausweise eingezogen. „Bei dem Wetter war’s da oben wie aufm Sonnendach“, genießt ein Dachbesetzer den Auflauf.

Drinnen ist wieder Alltagsbetrieb, die Angestellten sind noch ein wenig aufgeregt. Man weiß nicht so recht, was das sollte. Die Ladenstürmer hatten viele kleine Schildchen verteilt mit dem Aufdruck „Lidl ist billig – und die Angestellten zahlen drauf“. Eben diese Angestellten müssen die Schildchen jetzt mühsam suchen und wegwerfen.

Die Ungerechtigkeiten seien allen bekannt, nur keiner wisse so recht, was man dagegen unternehmen könne – das war immer wieder Thema in Veranstaltungen der Sommeruniversität. Wie gelungen die Lidl-Aktion ist, wird sich zeigen. In der Stimme der Kassiererin jedenfalls schwingt Erleichterung mit, als sie ihre Kollegin fragt: „Sind se endlich weg, Schulzi?“ Vorerst ja, aber vielleicht kommen sie wieder. Die Sommerakademie endet erst morgen.