Alle meine Schmerzen

Humpelnd, im Spitzenschuh startete das Festival „Tanz im August“ mit der kanadischen Company von Marie Chouinard. Schwerpunkt des viel versprechenden Programms: Woran erinnert sich der Körper?

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

All die großen Namen! Und sie kommen zu Besuch, zum 17. Tanzfest im August: Nijinsky, der erotisierend zündelte im russischen Ballett, Valeska Gert, die Groteske der Zwanzigerjahre, Isadora Duncan, die den Geist der Antike in der freien Bewegung wiederzubeleben glaubte, Merce Cunningham, der mit den Tanzstrukturen experimentiert. Nicht in Fleisch und Blut kommen sie, sondern als Heimsuchungen großer Geister für die Tänzerin Julia Cima aus Paris.

Schon bevor sie Tänzerin wurde, hörte Cima diese Namen, und in den Ballettsälen und Studios tauchten sie dann immer wieder auf – als Anfang einer langen Kette von Bewegungen und Transformationen. Cimas Stück „Visitations“ (Samstag und Sonntag im Podewil) ist ihre persönliche Einverleibung, nachgetanzt nach alten Filmausschnitten von Solos der Choreografen.

Das Gedächtnis des Körpers bildet einen Schwerpunkt des diesjährigen Festivals „Tanz im August“. Dazu gehört eine Filmreihe im Arsenal mit Tanzgeschichte(n). Auf den Spuren einer Ballettpremiere von 1946 bewegt sich auch Olga de Soto aus Brüssel, die für ihre Performance „Histoire(s)“ Zeitzeugen nach ihren Erinnerungen befragt hat. Auf das Interesse an der Auseinandersetzung damit, wie Tanzgeschichte transportiert wird, stießen die Kuratoren des Festivals – Ulrike Becker, Bettina Masuch und André Thériault – während ihrer Arbeit am Programm immer wieder. Es verdichtete sich auch in einer neuen Bereitschaft, Begegnungen zwischen zeitgenössischem Tanz und Ballett herzustellen. Ihr Programm spiegelt das vielfach wider: Nicht nur in der erstmaligen Beteiligung des neu gegründeten Staatsballetts mit einem Solo seines Chefs Vladimir Malakhov, sondern auch im Material der Bewegungsrecherchen der Choreografen.

Das Stück „Body Remix/Goldberg Variations“, mit dem das Festival im HAU 1 (nur noch heute) spektakulär eröffnete, hat dabei einen sehr speziellen und fast schon gemeinen Blick auf den Spitzenschuh entwickelt, der noch immer als ein Merkmal der klassischen Choreografien gilt: Er wird zu einem Instrument exquisiter Schmerzen. Dabei ist er nur eine Waffe im reichhaltigen Arsenal der Choreografin Marie Chouinard und dient neben Gehhilfen, Krücken, Seilen, Stangen und Rollen einer extremen Manipulation des Bewegungsapparates. Die Verfremdung der Körper beginnt in ihrem Inneren, in ihrer Selbstwahrnehmung: im veränderten Gefühl, mit allen diesen Verlängerungen der Glieder in den Raum zu stechen und zu piksen und den Partner im Duo mit langen Stangen wie Maschinenkolben vor sich her zu treiben.

In die Wahrnehmung von der Ganzheit des eigenen Körpers schneiden auch die Kostüme deutlich sichtbar ein, oft nur Bänder und Strings um Hüften und Hintern oder knappe Kappen, die gerade so die Brustwarzen der Frauen bedecken. Dazu gehören auch die straff zurückgekämmten Haare der Tänzerinnen, die ihnen die Haut im Gesicht strammziehen. So wirkt die Einzelne parzelliert und in Zonen eingeteilt, während Gummibänder und Metallstangen sie untereinander verkuppeln und verbinden.

Die Schnittstellen zwischen Tanz und bildender Kunst – besonders Skulptur und Installation – sind eine weitere der Verdichtungen, auf die die Programmmacher stießen. Und auch dafür kann „Body Remix“ stehen. Das Stück berührt einen sehr seltsam: Denn seine Bilder sind einerseits aus Teilen zusammengesetzt, die aus dem Kontext von sexueller Erregung und Ekstase, von Bondage und anderem sinisteren Zeugs stammen. Andererseits aber finden sie in einem kühlen und synthetischen Raum statt, der jegliche Sinnlichkeit mit dem Seziermesser kaltstellt. Einen Moment lang ist man versucht, das als eine kritische Sicht auf die Vermarktung des Körpers und den Handel mit Erotik zu deuten. Der Aufwand, den die Tänzer treiben, lässt dies aber bald zu einer Beobachtung am Rande verkommen.

Nein, am Ende bleibt tatsächlich das Motiv der Bewegungsforschung am eindrücklichsten. Dafür nahmen die Tänzer, wie sie beim Pressetermin erzählten, auch reale Schmerzen in Kauf, denn einige von ihnen schlüpften mit über 30 zum ersten Mal in Spitzenschuhe. Sie bringen mit nur einem Schuh ihren Gang außer Takt, bis der Körper humpelnd in ein asymmetrisches Wesen zerfällt. Je weiter sie sich von der gewohnten Koordination der Glieder entfernen, desto süchtiger scheinen sie danach, weiterzumachen. Manchmal mischt sich Ekel in die Faszination, mit der man ihren Extremerfahrungen folgt, viel zu selten Witz. Ein Teil ihrer Bilder wirkt zynisch, wie jedes Forschungsvorhaben, das Leben letztendlich als Biomasse betrachtet und von sozialen Bedeutungen abkoppelt. Über den Punkt, an dem sich auch für den Betrachter eine Tür zu einem anderen Raum mit Imaginationen über den eigenen Körper öffnet, ist dieses Stück zu schnell hinaus.

Tanz im August: bis 30. August, 24 Programme auf 12 Bühnen, Programm siehe tazplan und www.tanzimaugust.de