Wurf aus der Ecke

Franka Dietzsch war abgeschrieben. Der Verband glaubte nicht mehr an sie. Bei der WM demonstriert die Diskuswerferin, dass dies eine grobe Fehleinschätzung war. Souverän sichert sie sich Gold

AUS HELSINKI FRANK KETTERER

Franka Dietzsch hätte die ganze Welt umarmen können. Erst war es der Kampfrichter rechts neben ihr, den sie an sich drückte, dann der links. Die beiden Männer in ihren dunkelblauen Regenjacken wussten im ersten Moment gar nicht, wie ihnen geschieht. Erlebt hatten sie so etwas wohl noch nicht. Aber irgendwie schien sie die Freude der mächtigen Frau anzustecken, jedenfalls lächelten sie. Und außerdem: Wann wird man schon von einer leibhaftigen Diskus-Weltmeisterin so in die Mangel genommen?

Vielleicht sollte man diesen Satz noch einmal hinschreiben, schließlich ist er trotz seiner Schlichtheit ziemlich unglaublich. Also: Franka Dietzsch ist Weltmeisterin. Um zu verstehen, was das bedeutet, muss man erwähnen, dass diese Dietzsch aus Neubrandenburg bereits 37 Jahre alt ist und die WM in Helsinki ihre achte ist. Dietzsch selbst befand: „Dieser Erfolg ist mehr wert als der von Sevilla.“ Dort war sie vor sechs Jahren schon einmal Weltmeister geworden.

Der Triumph von Helsinki besticht vor allem durch seine Deutlichkeit. Nicht nur, dass Dietzsch mit 66,56 Meter die 1-Kilo-Scheibe über zweieinhalb Meter weiter warf als die Russin Natalya Sadova (64,33), die Neubrandenburgerin hätte mit vier ihrer fünf Würfe den Titel gewonnen. Der Erfolg besticht aber auch wegen der Tatsache, dass Dietzsch Regen nicht mag, mehr noch: „Sie hasst Regen wie die Pest“, verriet Dieter Kollark, ihr Trainer. Und natürlich regnete es auch diesmal. „Aber ich war darauf vorbereitet“, sagte sie.

Zum einen hatte sie sich eigens für Helsinki ihre Schuhe neu besohlen lassen. Extra stumpf ist das neue Material. Im nassen Ring gibt ihr das einen besseren Halt. Aber auch ein paar Dinge an sich hatte sie im Vorfeld geändert, zum Beispiel, die Art, wie sie so einen Wettkampf angeht. Früher galt Dietzsch eher als Sensibelchen. In Helsinki aber griff sie auf die Kraft des positiven Denkens zurück: „Am Morgen habe ich mir gesagt: Okay, es regnet. Aber das ist egal, schließlich regnet es für alle.“ Prompt schockte sie bereits mit ihrem ersten Wurf auf 64,89 Meter die Konkurrenz.

Die neue mentale Stärke der neuen Weltmeisterin kommt nicht von ungefähr, sondern von dem renommierten Neubrandenburger Psychologen Willi Neumann. Fünf, sechs Sitzungen habe sie bei dem Professor gehabt, dabei aber nichts „prinzipiell Neues erfahren, was ich nicht auch so gewusst hätte“. Auf der anderen Seite: Neumann setzte sie auch unter Hypnose, „um bestimmte Dinge aus dem Leben, die fast schon vergessen waren, wieder in Erinnerung zu rufen.“ Zumeist, erzählt Dietzsch, habe es sich dabei um vergangene Glücksmomente gehandelt, wie zum Beispiel den WM-Sieg in Sevilla. Und weil sie sich plötzlich diese guten Gefühle aus der Vergangenheit vergegenwärtigen konnte, war sie viel besser drauf. „Vielleicht braucht man so einen Anstoß“, sagt Dietzsch – und man hört, dass sie das Ganze ein wenig skeptisch betrachtet, gerade so, als empfände sie es selbst als Hokuspokus. Andererseits: Es hat geregnet – und sie ist trotzdem Weltmeisterin geworden. Wie schnell sagen sich da Sätze wie: „Von mir aus kann es weiterregnen.“ Oder: „Bei schönem Wetter kann ja jede werfen.“ Und das ganz ohne Hypnose.

Im Nachhinein betrachtet waren Regen samt dazugehörigem Wind in der Tat gut für Dietzsch, sie hatte sich das nicht nur suggeriert. Die Neubrandenburgerin gilt als Werferin, die den Diskus eher flach abfeuert, was im Normalfall als eher weniger optimal gilt für das Erreichen der ganz großen Weiten. Am Donnerstag aber war es genau die richtige Art, um die Scheibe zum Sieg zu schicken. Alle zu hoch in den Wind gelegte Disken wurden jedenfalls gnadenlos verblasen. Sie stürzten früh ab. „Aus ihrem eigentlichen Fehler wurde ein Vorteil“, analysierte Trainer Kollark. Der Mann weiß, wovon er redet. Das Gold von Helsinki ist das zehnte, das eine seiner Athletinnen bei Großveranstaltungen gewinnt. Der 60-Jährige, der auch die Kugelstoß-Olympiasiegerin Astrid Kumbernuss betreut, ist damit der erfolgreichste deutsche Leichtathletik-Trainer.

Vielleicht hat Kollark sich auch deshalb das Recht herausgenommen, am Tag nach der ersten deutschen WM-Goldmedaille seit vier Jahren nicht nur eitel die Sonne scheinen zu lassen im Deutschen Leichtathletik-Verband. Denn ein paar Wolken liegen über der Erfolgsgeschichte von Franka Dietzsch. Vom Verband wurde Dietzsch, nachdem sie bei der EM 2002 verletzungsbedingt nicht an den Start gehen konnte sowie ihrem Vorkampfscheitern bei der WM 2003 und Olympia 2004, bereits als zu alt angesehen. „Man hat uns in der Ecke abgestellt“, sagt Kollark. Er selbst schied nach Olympia in Athen aus den Diensten des DLV aus, „weil meine Athleten angeblich keine Perspektive mehr haben“. Nun ist Kollark selbstständiger Trainer und kassiert Überbrückungsgeld vom Arbeitsamt, Dietzsch wiederum arbeitet halbtags im Callcenter der Sparkasse Neubrandenburg. „Sie hat einen guten Teil ihrer Ersparnisse aufgebraucht, um die letzten beiden Jahre finanzieren zu können“, sagt Kollark.

Dietzsch will sich ihre gute Laune von all diesen Dingen nicht vermiesen lassen. Nicht jetzt, nicht hier. Sie ist schließlich Weltmeisterin, der Rest zählt im Moment nicht. „Dieser WM-Titel hat vieles wieder wettgemacht. Vielleicht wird es ja in Zukunft anders werden“, sagt sie. Mit Zukunft meint sie die Zeit bis zu den Olympischen Spielen in Peking, 2008. Franka Dietzsch wird in dem Jahr 40.