Keine süße Geschichte

Ein Wiedergänger von Edward Scissorhands: Johnny Depp in Tim Burtons „Charlie und die Schokoladenfabrik“

Tim Burtons neuer Film „Charlie und die Schokoladenfabrik“ erzählt davon, wie der bettelarme, aber wohlerzogene Charlie Bucket zum Erben einer solchen wird. Eine Frage, die sich schon in der Vorlage, Roald Dahls zwischen Mutwillen und Sadismus changierendem Kinderbuch, aufdrängte, verfolgt einen auch hier: Wer zum Teufel ist eigentlich dieser sagenumwobene Chocolatier Willy Wonka? Jahrlang ließ er sich nicht in der Öffentlichkeit sehen und erklärt sich nun eines Tages bereit, fünf ausgewählte Kinder durch seine wundersame Fabrik zu führen. Die Führung wird zu einer Geisterbahnfahrt, geleitet vom zuverlässigsten Darsteller Burton’scher Fantasiegestalten: Johnny Depp.

Depps Wonka scheitert bereits an der Begrüßung seiner Gäste und muss ein Stichwortkärtchen zu Hilfe nehmen. Alsbald wird klar, der Mann ist ausgesprochen ungeübt im Umgang mit anderen Menschen, seine Geduld ist rasend schnell am Ende und mit schlechtem Benehmen kommt er erst recht nicht zurecht. Einerseits, andererseits aber platzt er schier vor Begeisterung darüber, sein mit süßen Wundern und fantastischen Erfindungen bis unter die Decke angefülltes Lebenswerk präsentieren zu können. Mit leuchtenden Augen eilt Depp durch Burtons großartige Sets. Dass unterwegs ein ungezogenes Kind nach dem anderen durch „bedauerliche Missgeschicke“ verloren geht, scheint ihn nicht zu beirren. Nur Charlie Bucket, höflich, bescheiden und liebenswert, übersteht die Auslese unbeschadet.

Johnny Depp gibt Wonka mit einer explosiven Mischung aus unverbrüchlichem Optimismus und arroganter Reizbarkeit. In Sekundenbruchteilen wechselt seine Mimik von freundlich zu genervt und wieder zurück. So schnell, dass man über seinen wahren Charakter lange im Unklaren bleibt, unsicher, ob das exotische Wesen ein gefährlicher oder ein harmloser Irrer ist. Die Divenhaftigkeit der Figur spiegelt sich in ihrem gestylten Äußeren wider, künstlich wie ein übergroßes Bonbon. Ein maskenhaft weiß geschminktes Gesicht, lila Latexhandschuhe, burgunderroter Samtrock, schwarzer Zylinder und Gehstock verstärken den Eindruck eines Impresarios. Dazu trägt Depp einen tantenhaften, kastanienbraunen Haarhelm, der die androgyne Ausstrahlung seiner Figur betont. Mit 42 Jahren ist Johnny Depp noch immer die ideale Verkörperung von unerwachsenen Zwischenwesen jenseits von Sexualität und Geschlechterzuschreibungen. Er ist auch der Welt größter Schöpfer von Exzentrikern, die selbst dann unmittelbar anrühren, wenn sie deutlich ein Rad ab haben. Oder mehrere.

Der verrückte Schokoladenfabrikant hat jedoch noch eine weitere, eher unvermutete Dimension: Fast unmerklich lässt Depp in die egozentrische Grandezza Wonkas die scheue Zutraulichkeit und tiefe Einsamkeit seines Edward Scissorhands einfließen; einer Figur, die er 1990 in „Edward mit den Scherenhänden“ gleichfalls für Tim Burton spielte. Diese Verknüpfung ist folgerichtig, weil sich Burton dazu entschlossen hat, für Wonka eine Kindheitsgeschichte zu erfinden. Die erklärt nicht nur, warum das Wort „Eltern“ bei Wonka den Würgereflex auslöst, sondern reiht „Charlie und die Schokoladenfabrik“ auch unter jene Filme ein, in denen sich Burton an einem gestörten Vater-Sohn-Verhältnis abarbeitet.

Willys Vater Wilbur hat seinen Sohn nicht nur verlassen, sondern zuvor mit einer monströsen Zahnspange ausgestattet, die in ihrer Hinderlichkeit an Edwards untaugliche Scherenhände erinnert. Allein auf der Welt und unfertig wie Edward, wird Willy zum Geschöpf seiner selbst, eingeschlossen in eine Welt aus Schokolade, die zwar vorübergehend glücklich macht, auf Dauer jedoch keinen Trost bietet. Es braucht Charlie Bucket, um Wonka aus der hysterischen Lähmung zu reißen, die der Schreck über den Verlust des Vaters ausgelöst hat. Während Autor Roald Dahl die Frage nach Willy Wonka zugunsten des Abkanzelns missratener Bälger links liegen ließ, finden Burton und Depp die versöhnende Antwort: Er ist ein verlorener Sohn, und auch irgendwie missraten.

ALEXANDRA SEITZ

„Charlie und die Schokoladenfabrik“. Regie Tim Burton. Mit Johnny Deep. USA 2004, 106 Min