Poetisch, schelmisch, kess

Das Museu casa do pontal in Rio de Janeiro: Das größte brasilianische Volkskunstmuseum lässt die Augen strahlen – nicht nur bei Kindern. Alltagsszenen meistens aus Ton, gesammelt in allen Regionen des Landes, erzählen vom ganz realistischen Leben

Schlappernd nicktder Kopf des malträtierten Jesus herab – jetzt ist er tot.

VON BERND MÜLLENDER

Ein flacher Bau mitten im schwülen Urwald, gut eine Autostunde von Rio entfernt. Das Museu do pontal. Am Eingang heißt es warten, bis jemand auftaucht. „Bom dia“ – Guten Tag. Kaum wenden sich die Besucher den ersten Exponaten in den schlichten Glasvitrinen zu, legt sich ein mildes Lächeln auf ihr Gesicht. Dann schnellen Mundwinkel hoch. Und wenn noch eine Schulklasse dazukommt, wird das Glück laut. Kichern. Gealber, Gekiekse. Guck mal hier, guck mal da.

Es gibt nicht viele Museen auf dieser Welt, die Erwachsene und Kinder gleichermaßen spontan begeistern. Dieses ist eines davon. Ausgestellt sind kleine grellbunte Figuren. Naiv und schief, kurios, filigran und auch unbeholfen schlicht, aber immer voll lebendiger Ausdruckskraft. Meist sind sie aus Ton, manchmal auch aus Gips, Holz oder Knetmasse, viele kaum 20 Zentimeter hoch. Die meisten haben neckische Knopfaugen, die mal weit offen sind, mal schelmisch, listig oder staunend. Das verbindet Betrachter und Objekte.

In elf Miniaturen sind beispielsweise die Stationen des Lebens dargestellt. Erst bringt ein Vogel, eine Mischung aus Tukan und Taube, ein Kindlein. Am Ende liegt dann ein alter Mann in einem grotesk-putzigen Sarg. Daneben die Themenwelt Tanzen, Schmusen und Küssen – mit brasilianischer Ernsthaftigkeit und deshalb mäßig züchtig. Bossa Nova und Samba, die Töne des Landes – hier sind sie aus Ton.

Hinreißend schön und saftig realistisch sägt ein paar Schritte weiter der Chirurg, per Fuß stemmt sich der Dentist beim Zahnziehen gegen den Brustkorb des ausgelieferten Opfers, daneben wird eifrig geboren. Im Bereich „arte erótica“ geht es rührend ernst zur Sache, und nicht nur in jenem Exponat, in dem sich Eva an Adams Riesenliane durch das Paradies schwingt.

Das Museum will „viele Aspekte aus dem Alltagsleben gewöhnlicher Menschen in Brasilien“ darstellen, als „Familienalbum aus Humor und Poesie“. Der französische Designer Jacques van de Beuque hat die 8.000 Exponate während 50 Jahren auf seinen Reisen kreuz und quer durch Brasilien gesammelt: „Dieses Land hat mir erlaubt, meine Träume zu leben“, lässt er wissen, „und also möchte ich dieses kleine Universum bescheidener und ehrenwerter Künstler abtreten an eine sonst so korrupte Welt voller Gewalt und Hass.“

Schnell bekommt man in diesem größten Volkskunstmuseum in Brasilien (200 Künstler auf 1.500 Quadratmetern) eine Ahnung, was der Menschen Dasein in der Weite des Riesenlandes ab den 50er-Jahren so alles prägte. Es sind die kleinen Erlebnisse des Alltagslebens, ihr naiver Glaube, die Träume, Fantasien und die vielen Begegnungen: Fahrende Schuhputzer und Schneider sind dargestellt, der Landarzt, Prozessionen. Viele Figuren stammen aus dem armen Nordosten. Oft schimmern Voodoo und Makumba durch. Bunte Lebenslust, weltentrückte Gelassenheit.

Mitten im Museum beginnen die lieb gewonnenen Püppchen plötzlich das Zappeln und Hampeln. Holzfiguren hacken los: tock, tock, tock. Zu Dutzenden bewegen sich Figuren in einer Fabrik, in einer Mine unter Tage peitscht und schlägt der Vorarbeiter die Leibeigenen, es zuckt und wimmert. Selbst gebastelte Spielautomaten machen Musik, etwa die Landkapelle aus Quetschkommode, Gitarre, Triangel und Gesang. Die Musikermünder klappern dazu auf und zu, einer lässt cool eine Fluppe wippen. Auch Mord gehört zum Leben: Der Täter sticht dem Opfer ins Herz, rein, raus, rein, raus, und bei jedem Stich zuckt die Zunge aus dem Mund des Dahinscheidenden. An einer Installation kann man die Funktionsweise der archaischen Spielautomaten studieren: Unzählige Drähte bewegen Kantholzstücke und Rollen; man braucht nur jemanden an einer Kurbel oder einen kleinen Motor. Mechanische Animationen aus Vorcomputerzeiten.

In der Religionsabteilung findet sich eine groteske Sammlung von Jesus-Kindlein, lächelnde Winzlinge auf Schemeln oder in einem Kübel, dazu ein schwarzer Gottessohn, der mit mächtigen Wimpern und wulstigen Lippen mehr wie eine Erlöserin Jesusa wirkt. Einer hängt am Kreuz mit weißem Schlips und bunten Knickerbockern als kesser Popart-Gott. Die Kreuzigung gibt es als Maschinenspiel: Ein Nagel wird in des Herrn Hand gehämmert, dabei nickt der Kopf des Malträtierten herab – jetzt ist er tot.

Wenn früher ein Wanderzirkus in ein weltabgelegenes Dorf kam, müssen alle außer Rand und Band geraten sein. Das belegen die zirzensischen Dokumentationen im Museum. In jeder einzelnen Figur steckt die ganze charmante Welt ungläubigen Staunens: Clowns und musizierende Tiere, hölzerner Fakir auf dem Nadelkissen, Zauberer mit Taube aus Hut, Radler mit Drahtesel auf Hochseil, Akrobaten am Trapez, die Jungfrau mit Säge in sich – und alles in zuckenden Bewegungen dank mechanischer Heimarbeit.

Eine Gruppe kichernder Mädchen ist unterwegs. Paulo, der Museumsleiter mit dem Pferdeschwanz, erklärt vieles und er singt und klampft dazu ein Lied vom „grande artista“. Das ist musikalische Museumspädagogik auf Brasilianisch.

Und im Gegiggel und Gelache wachsen die großen Kinderaugen bis an ihre anatomischen Grenzen, besonders beim Finale: zwei etwa 2 x 6 Meter große Nachbildungen des Karneval-Sambadroms in Rio. Knopfdruck. Die Mechanik rast los. An die hundert Figuren zappeln zum Sambarhythmus. Tänzer tanzen, Trommler trommeln, Tribünenfigürchen jubeln und winken leuchtäugig. Laut scheppert die Musik. Die Kinder wissen nicht, wo nur sie zuerst hinsehen sollen. Und wir Erwachsenen auch nicht.

Museu do pontal, Estrada do pontal, 3295 Recreio dos Bandeirantes, Rio de Janeiro RJ, 22785-580 Tel. (00 55-21) 24 90-32 78; pontal@openlink.com.br, www.popular.art.br/museucasadopontal, Eintritt: 8 Reales (2,50 EUR), ermäßigt 5; Di–Sa 9–17 Uhr