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Kein Täter, aber mitschuldig

„Retter und Täter zugleich“,

taz nord vom 22. 6. 19

In dem Artikel ist der Eindruck entstanden, dass ich Hans Georg Calmeyer in meiner Dissertation als Retter und Täter zugleich dargestellt habe. Bei dem Gespräch mit der taz in englischer Sprache ist das Wesentliche offenbar untergegangen. Es war Calmeyer selbst, der sich kurz vor seinem Tod als „Retter und Täter“ beschrieb, wie mir sein „amerikanischer“ Sohn Ende 2012 sagte.

Durch die Untersuchung von Tausenden von Änderungsanträgen der Entscheidungsstelle für Zweifelsfälle in „Rassefragen“, die die deutschen Besatzer in Den Haag betrieben haben, war ich in der Lage, festzustellen, wie viele Menschen den Krieg überlebt haben. 2.659 Menschen, die sich Anfang 1941 unter dem Druck der Nazis als Juden hatten registrieren lassen, konnten mittels eines Änderungsantrages an die Abteilung, welche Calmeyer leitete, überleben und wurden nicht deportiert. In seiner Stellung war Calmeyer ein Teil der Besatzungsorganisation. An keiner Stelle meiner Dissertation habe ich ihn jedoch als „loyalen Repräsentanten eines Besatzungsregimes“ beschrieben.

Etwa 1.200 Menschen ist es trotz des Versuchs, eine Revision ihrer früheren Regis­trierung als Juden zu erreichen, nicht gelungen zu überleben. Sie wurden durch die Nazis in Osteuropa auf grausame Weise ermordet. Müssen wir das Calmeyer anlasten, so wie es der Artikel „Retter und Täter zugleich“ suggeriert? In meiner Dissertation zeige ich, dass die „Entscheidungsstelle“ auf der Grundlage einer vorhersehbaren Entscheidungsstruktur entschied. Wenn man die Kriterien des Entscheidungsrahmens erfüllte, hatte man bis einschließlich September 1943 eine reale Überlebenschance. Hierfür waren nicht nur Calmeyer und seine Mitarbeiter, sondern auch die Rechtsanwälte, Notare, Anthropologen und nicht zuletzt auch die Antragsteller selber verantwortlich. Dass Menschen abgewiesen wurden, kam vor allem daher, dass sie die Entscheidungskriterien nicht erfüllten. So war es beispielsweise für die „Entscheidungsstelle“ unmöglich, Anträge von Menschen zu bewilligen, die behaupteten, Halbjuden zu sein, die jedoch zugleich mit einem Juden oder einer Jüdin verheiratet waren. Calmeyer und seine Mitarbeiter konnten nicht anders, als solche Anträge abzuweisen.

Seit Oktober 1943 wurde es der Entscheidungsstelle besonders schwer gemacht, überhaupt noch Anträge zu bewilligen. Seitdem ist es vorgekommen, dass Calmeyer willkürlich entschied. Dass dies geschehen ist, macht aus ihm nicht nur einen Menschenretter, sondern auch einen Mitschuldigen. Ich würde ihn jedoch alles andere als einen Täter, so wie er es selbst sah, nennen wollen. Die Ereignisse ändern nichts an der Tatsache, dass Calmeyer und seine Mitarbeiter nicht an der Vernichtungsabsicht der Nazis mitgewirkt haben. Dadurch konnten etwa dreitausend Menschen überleben. Ein besonderes historisches Ereignis in einer dunklen deutschen Kriegsvergangenheit. Petra van den Boomgaard, Den Haag/Niederlande