DIE ERDERWÄRMUNG HAT AUCH IHRE GUTEN SEITEN, HIPHOP IST REALER ALS TECHNO, UND GELD IST NICHTS WEITER ALS EINE KONVENTION
: Plötzlich am Bodden

VON JURI STERNBURG

Die Vorbereitungen sind fast abgeschlossen. Der Leuchtturm ähnelt schon dem schiefen Turm von Pisa, der Wodka ist kaltgestellt, und drei der vier Bars sind ebenfalls als solche erkennbar. Es fehlt allein der Riesenkrake. Es dauert nur noch wenige Stunden, bis das Festival beginnt, und dementsprechend ist diese Phase kurz vor der Eröffnung durch chaotische Dynamik geprägt, ein verwirrter Bienenschwarm ist nichts dagegen.

„Linksbeinamputierter sucht Rechtsbeinamputierten zwecks gemeinsamen Schuhkaufs.“ Allein diese kleinen Annonce aus einem durch Suchmeldungen für entlaufene Katzen geprägten regionalen Schmierblatt lässt mehr Koordination erkennen als der Haufen übermotivierter Jünger, der in Baggern und Gabelstaplern über das Festivalgelände tuckert.

Doch wie Müller bereits feststellte, als noch niemand daran gedacht hat, ein Technofestival zu veranstalten: „Das Problem ist, sobald die Jugendlichen sagen können, was sie erreichen wollen, sind sie schon paralysiert. Solange eine Kraft blind ist, ist sie eine Kraft. Sobald sie ein Programm, eine Perspektive hat, kann sie integriert werden und gehört dazu.“ Insofern müssen wir in diesen letzten Stunden eher darauf achten, dass uns die Kraft nicht übermannt. Der ein oder andere ist schon ganz grün im Gesicht, die Metamorphose zum Hulk steht kurz bevor. Angesichts der noch zu bewältigenden Aufgaben wäre so ein Kraftprotz gar nicht so unpraktisch.

Es ist relativ warm hier oben auf Usedom, zwei Mitarbeiter wollen Eisbären gesichtet haben, ich verweise auf die Wirkung der Halluzinogene und auf die Schuld der Konzerne an der globalen Erwärmung. Aber wir sind ein offenes und freiheitsliebendes Kollektiv, jede Meinung muss angehört werden, bevor sie niedergeschrien wird, und deshalb darf man auch behaupten, dass die Erderwärmung ihre guten Seiten hat. Wenn die Polarkappen schmelzen, ist zum Beispiel der Seeweg zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika um 4.000 Kilometer kürzer.

Das leuchtet uns ein, schließlich sind Kreuzfahrten ekelerregend, und je schneller eine solche zu Ende ist, desto besser. Der Leuchtturm ist inzwischen voll funktionsfähig, vorbeifahrende Luxusliner müssten nun also wissen, wo sie anzulegen haben. Wer die Schnauze voll davon hat, dem Kapitän die Hand zu schütteln oder Costa Cordalis beim Jaulen zuzuschauen, der soll an Land kommen, hier gibt’s genug Musik für alle.

Hier bin ich richtig

Als die Tore sich öffnen und das tanzwütige Volk die Zelte aufbaut, in denen sie sich im Idealfall zu keinem Zeitpunkt aufhalten werden, da fällt mir wieder ein, dass ich privat eigentlich gar kein Techno höre. Ich höre lieber HipHop. Das ist greifbarer, realer. Da rappt jemand im besten Fall von seinem riesigen Haus, seinem teuren Schlitten und seiner geilen Frau, die auch ein Riesenhaus und einen total teuren Schlitten hat, und ich weiß, dass der Typ die Wahrheit sagt, weil er ganz viel Geld verdient und sich das alles leisten kann. Das mit dem Geld ist natürlich Nonsens, schließlich ist es einfach nur ein Wert, auf den wir uns alle geeinigt haben.

Wenn wir uns morgen darauf einigen, dass Geld wertlos ist und wir es nicht mehr akzeptieren, würden die aber alle ganz schön dumm aus der Wäsche gucken, diese ganzen Konzerne, Eisbären, Reedereibesitzer und Festivalveranstalter. Als der Beat einsetzt, der Leuchtturm seinen Dienst verrichtet und der Riesenkrake Nebelwolken aushustet, da weiß ich, dass ich hier richtig bin. Ich kämpfe mich aus dem frivolen Getümmel heraus, schwanke ein paar Schritte nach links und ein paar nach rechts – bekanntlich hat man mehr vom Weg, wenn man torkelt – und höre das Glucksen des Küstengewässers. Plötzlich am Bodden.