berliner szenen
: Der Ho-Chi-Minh-Pfad der Ranch

Eine Frau, die brüllend über den U-Bahnhof läuft, als kehrte sie ihr Inneres nach Außen, kommt an mir vorbei. Ich trete ein paar Schritte zurück, sodass ich neben einem Mann stehe. „Bleiben Sie ruhig, passiert nichts!“ Er hat graue Haare, einen grauen Bart und ein oft getragenes Sakko. In seinem Gesicht findet sich eine gutmütige Mischung aus Neugier und Freundlichkeit. „Ich habe lange Zeit als Krankenpfleger gearbeitet, Dietrich-Bonhoeffer-Nervenklinik, Bonnies Ranch, kennen Sie das?“

Ich nicke. Das Brüllen wird leiser. Im Westen der Stadt aufgewachsen, kenne ich diesen Ort. Er diente vielen als Projektionsfläche für alles Großflächige, was man sonst nirgendwo in seinem Oberstübchen unterbringen konnte. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Die lautesten sind oft die Harmlosen, na ja, manchmal auch nicht!“ Er lächelt.

„Die Klinik gibt es nicht mehr“, sage ich. „Seit ein paar Jahren nicht mehr“, sagt er. „Ich war dort in den Sechzigern und Siebzigern. Das war eine merkwürdige Zeit, kann ich Ihnen sagen. Auf dem Gelände gab es sogar einen Friedhof. Da sind die Angestellten beerdigt worden. Hinter dem Zaun waren Gleise, da gab es ­Schlupflöcher, da sind die Süchtigen dann durch. Die waren stillgelegt, die Gleise. Das wurde Ho-Chi-Minh-Pfad genannt. Die Süchtigen sind los und haben an der Friedrichstraße polnischen Panzersprit gekauft. Das war verrückt. Das wussten ja alle! Und direkt, das müssen Sie sich mal vorstellen, direkt hinter dem Zaun gab es einen Eisenbahner-Verein, alles Männer. Da stand noch eine alte ­Lokomotive rum. Die haben sich Uniformen angezogen, hielten Kellen in der Hand, und ein paar Signale konnte man noch per Hand betätigen. Als ich das erste Mal durch den Zaun bin, stand ich da und dachte: Gehören die zu uns?“

Björn Kuhlig