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der rote fadenWeniger ist das neue Mehr

Foto: Miriam Klingl

Durch die Woche mit Nina Apin

Verzicht ist das neue große Ding in unserer anpolitisierten Wohlstandsgesellschaft: So ziemlich alle verzichten gerade auf irgendwas, der Umwelt oder der eigenen Gesundheit zuliebe: auf Fleisch, auf Urlaubsflüge oder auf Plastiktüten. Wenn sie nicht gleich Intervallfasten betreiben – eine Methode der unregelmäßigen Nahrungsaufnahme, die sich, wie schon der Vorgänger-Hype „Paläo-Diät“, an die Lebensgewohnheiten des Steinzeitmenschen anlehnt: Auf Tage der reichlichen Kalorienaufnahme folgen Perioden des Hungerns. Schließlich gab es damals im Paläolithikum nicht jeden Tag frisch erlegtes Tier, sondern auch mal tagelang nur Nüsse und Beeren.

Paläo-Diät

Ob man den Verzicht nun nach der 5:2-Methode praktiziert (fünf Tage normal essen und zwei extrem kalorienreduziert) oder nach dem 16:8-Prinzip (16 Stunden lang nur Wasser oder Tee, dann ran an die Nahrung), der neue Diät-Trend, der sich bis in meinen Bekanntenkreis gehungert hat, passt perfekt zur aktuellen Askesestimmung. Wer sich selbst im Privaten Verzicht auferlegt, darf sich auch ein bisschen FFF fühlen, obwohl er oder sie vermutlich nicht im Traum dran denken würde, in einer solarbetriebenen Jacht ohne Klo und richtiges Essen über den Atlantik zu segeln, wie Greta Thunberg, die neue Ikone der Öko-Askese.

Askese macht freilich nur dann Spaß, wenn sie selbst gewählt ist. Weil man eigentlich aus dem Vollen schöpfen könnte, es aber freiwillig nicht tut. Wer immer billig essen muss, immer den Bus nehmen muss, sowieso nicht in Urlaub fahren kann und den Zoobesuch mit den Kindern streicht, weil das Geld knapp ist, fühlt sich nicht wie eine hippe Heldin des Postwachstums, sondern einfach nur arm. Wenn man den jüngsten Wirtschaftsprognosen glaubt, dann könnte der unfreiwillige Verzicht bald mehr Bundesbürger treffen: Laut dem Statistischen Bundesamt wird das Bruttoinlandsprodukt leicht sinken, die Konjunktur ist dabei, zu kippen.

Konjunktur

Freunde der Postwachstumslehre freuen sich schon: darauf, dass weniger Flachbildschirme gekauft werden, weniger Autos, weniger Pauschalreisen, weniger argentinische Hüftsteaks. Im Glauben, dass es den Planeten retten wird, wenn wir alle den Gürtel enger schnallen. Und verzichten, das wollen wir doch jetzt eh alle, oder? Na ja. Es gibt sehr viele Leute, für die nicht die Rettung des Planeten Priorität hat, sondern erst mal die Sicherung der eigenen Lebensqualität, die sie sich mühsam erarbeitet haben – oder um die sie bangen. Weil sie keine reichen Eltern haben, keine Ersparnisse, keine beruflichen Qualifika­tio­nen, die auch in Zukunft noch gefragt sein werden. Für viele bedeutet ein lebenswerter Alltag: eine bezahlbare Wohnung, ein Job, der zum Leben reicht, ein Hobby. Dazu gehört für die meisten auch ein bezahlbarer Urlaub – mit dem Flieger, weil Bahn fahren teurer ist. Oder ein großer Flachbildschirm. Oder zwei Autos in der Garage, weil er (klassischerweise) zum Job pendelt und sie die Kinder fahren muss.

Lifestyle-Snobismus

Über einen alten Diesel in der Garage, Billigklamotten und Grillwurst aus dem Supermarkt kann man als ökobewusstes Mittelschichtskind leicht die Nase rümpfen. Aber diesen Lifestyle-Snobismus schon für einen Politikansatz zu halten ist grundfalsch. Wie wäre es, wenn das Bahnnetz dichter, das Bahnfahren billiger würde? Und Wurst und Kleider etwas teurer? Aber das wäre dann ja, igitt, Verbotspolitik. Vor der haben irgendwie alle Angst, weil es heißt, die Leute würden dann womöglich aus Frust AfD wählen. Aber das ist ein Quatschargument. Eine handfeste Regulierungspolitik ist besser zu vermitteln als ein ständiger Moralismus, der die Lebenswirklichkeit vieler Menschen ignoriert.

Postwachstum

Zur Wahrheit gehört eben auch, dass von einer Rezession (oder von Einschnitten durch eine entschiedene Klimapolitik) nicht diejenigen als Erste betroffen sind, die heute schon die Wahl haben zwischen nachhaltigem und weniger nachhaltigem Konsum. Sondern diejenigen, die als Reservearmee des Dienstleistungskapitalismus auf Kurzarbeit gesetzt oder entlassen werden.

Deshalb ist es ja so tragisch, was gerade mit der SPD passiert. Dass sie einfach nicht punkten kann im allgemeinen Verzichtstaumel: Die Sozialdemokratie steht quer zum Zeitgeist, sie steht traditionell nicht für das Weniger, sondern für das Mehr: mehr Mindestlohn, mehr gewerkschaftliche Mitbestimmung und gute Arbeitsverhältnisse, mehr Rente. Denn wenn der Abschwung kommt, wenn Industriejobs durch neue Dienstleistungsjobs ersetzt werden, dann braucht es starke Sozialpolitik. Damit aus dem Ende der klimaschädlichen Industriearbeit nicht ein Albtraum der plattformkapitalistischen Ausbeutung wird. Vorschläge dafür kommen zurzeit vom Arbeitsminister der SPD (Weiterbildung für Industriearbeiter) oder von der Linkspartei, die den kostenlosen öffentlichen Nahverkehr für alle einführen möchte. Das ist mehr – UND gut fürs Klima. Nimm das, Verzichtsdiskurs!

Nächste Woche Ariane Lemme

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