berliner szenen: Fango ist italienisch für Schlamm
Es war ein anstrengender, aber gewöhnlicher Tag. Es brauchte kaum Worte. Die Leihschwalben, elektrischen Tretroller und Fahrräder schwebten geräuschlos durch die Stadt. Alltägliche Handlungen spulten sich vor und zurück. Uhrzeiten und Termine wurden verschoben. Alles tat etwas weh. Als die Schmerzmittel begannen zu wirken, verflüchtigte sich der Sinn. Jetzt fühlte ich mich leichter, um einige Gramm leichter als sonst. Ich sah auf mein Mittagessen, das mich leer zurück anschaute. Dann tastete ich mein Telefon nach relevanten Informationen ab.
Wie sich herausstellte, hatte ich später noch einen Physiotherapietermin. Der eine von zweien in der Woche. Fango und Manuelle Therapie, sechs Einheiten zu je einer halben Stunde. Die Praxis lag in meiner Straße. Im Wartezimmer lagen die ADAC Motorwelt und das Bootmagazin Yacht aus. Die Physiotherapeutin, helle Ausstrahlung, freundliches Temperament, erzählte von ihrer frisch geerbten Jolle. Sie liebte es, Dreiviertelhosen zu tragen und Ringelstrümpfe. Sie hatte rot gefärbte Haare, und zu Hause spielte sie ihren Kindern Lieder auf der Ukulele vor. Trotzdem verfolgte sie eher einen Gegenentwurf zu Pippi Langstrumpf. Also einerseits keck und eigen, andererseits altruistisch – in ihrer Freizeit segelte sie auf dem Havelsee. Immer, wenn die Fangopackung kam („Ich bringe die Wärme“, sagte sie) – Fango ist italienisch und heißt Schlamm –, schlief ich schnell ein, weil sie mich einpackte wie eine Mutter ihr Kind, das Licht dimmte und die Tür zumachte, und als sie siebzehn Minuten später klopfte, um mit der manuellen Therapie zu beginnen, musste ich mich erst wieder zurechtfinden in dieser eingerichteten Welt. Eine Oase der Regression, diese physiotherapeutische Praxis. Und fast erotisch. Aber klar, bevor es zu Liebe kommen konnte, ging ich wieder.
René Hamann
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