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: Die Revolution war real

Wer glaubt, die DDR wäre auch ohne die Opposition zusammengebrochen, ist historisch ahnungslos. Eine Antwort auf Udo Knapps „Mythos Revolution“

Foto: Ekko von Schwichow

Ilko-Sascha Kowalczuk Jahrgang 1967, ist Historiker und Publizist. Er wuchs in Ostberlin auf und durfte zu DDR-Zeiten nicht studieren. Sein neues Buch, „Die Über­nahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“, erscheint Ende August im Verlag C. H. Beck.

Pünktlich zum Revolutionsjubiläum ist ein Kampf um die Deutungshoheit entbrannt. Im Herbst jährt sich der 30. Jahrestag der ostdeutschen Revolution. Der Symboltag ist der 9. Oktober. An diesem Tag zogen über 70.000 Menschen um den Leipziger Ring. Die SED-Staatsmacht griff nicht ein, das von vielen befürchtete Massaker blieb aus. Noch Tage zuvor hatten hochrangige SED-Funktionäre erneut ihren chinesischen Amtskollegen ihre Bewunderung für deren Umgang mit Oppositionellen öffentlich bezeugt – die hatten Anfang Juni 1989 Hunderte Bürgerrechtler niedermetzeln lassen. Die SED-Führungsriege kapitulierte nun angesichts der unerwarteten Menschenmassen in Leipzig. Revolutionen gewinnen nie gegen eine starke Herrschaft.

Zu den Umdeutern der Revolution gehört zum einen die Linkspartei, die Crew um Gregor Gysi. Sie versucht einzuflüstern, sie wäre selbst ein Motor der „Wende“, wie sie die Revolution nennt, gewesen. Gysi erzählt, seine Partei hätte die Mauer geöffnet, und die SED, dessen letzter Vorsitzender er war, hätte ganz und gar freiwillig für die Friedlichkeit der Revolution gesorgt. Wahrscheinlich glaubt nicht einmal Gysi selbst an dieses Märchen. Aber ihm geht es um etwas anderes, nämlich darum, historische Glaubwürdigkeit zu behalten, um sich und seine Partei als diejenigen hinzustellen, die vor den dramatischen sozialen, kulturellen und politischen Folgen gewarnt hätten. Das zu behaupten funktioniert nur, wenn Gysis Partei nicht als das wahrgenommen wird, was sie historisch war: die Hauptverantwortliche für die Katastrophe im Osten mit ihrer 40-jährigen Diktatur.

Von rechts außen gibt es seit Längerem ebenfalls Vereinnahmungsversuche der Revolution. Wer gegenwärtig durch Brandenburg fährt, wird allerorten Wahlplakate der AfD sehen, die dazu auffordern „Vollende die Wende“ oder vor einer „DDR 2.0“ warnen. Höcke verkündete, „wir“ hätten doch nicht die Revolution 1989 gemacht, um nun in „so was“ leben zu müssen. Gauland spricht davon, wie 1989 würden nun wieder „Bürgerrechtler“, er meint seine Anhänger, verfolgt und verprügelt. So plump sich das auch anhört – es verfängt durchaus. Nicht nur im Osten glauben viele Menschen, die Verhältnisse heute gleichen denen in der Spätphase der DDR. Die das glauben, haben meist entweder in der DDR nicht gelebt, wie Höcke und Gauland, oder haben 1989 hinter der Gardine beobachtet, was sich auf der Straße zutrug. Aber selbst ihnen müssten doch die Unterschiede ins Auge springen: In der DDR säßen sie alle längst in Bautzen oder Cottbus, und keine Zeitung würde über sie berichten.

Aber auch in der Mitte der Gesellschaft tobt ein Kampf um die Deutung der Revolution. Udo Knapp hat diese Debatte am 30. Juli hier in der taz auf den Punkt gebracht: Es war erstens keine Revolution, und zweitens war der Zusammenbruch „nicht die Folge der so mutigen Großdemonstrationen in Leipzig und anderswo“.

Ich verstehe viele linke Westler, die ihren Phantomschmerz bis heute nicht beherrscht bekommen. Jahrelang träumten sie von einer Revolution: in ihrer „BRD“, in Nicaragua, sonst wo auf der Welt – und dann brach sie direkt vor der ungeliebten Haustür aus. Wie hätten sie auch darauf kommen sollen? Das Schmuddelkind DDR war ihnen so unsympathisch, dass sie nicht einmal den Blick vor die Haustür warfen, um zu schauen, um was für einen Dreck es sich da handelt. Wer keine Diktatur erkannte, konnte auch nicht mit einem Aufstand rechnen. Nicht die einstige Fehlwahrnehmung wird korrigiert, sondern einfach fortgeschrieben. Hier treffen sich so manche Westlinke und ostdeutsche Systemloyalisten übrigens, da Letztere ihre fehlende Systemopposition heute mit ganz ähnlichen historischen Konstruktionen „wissenschaftlich“ zu kompensieren suchen.

Tatsächlich hat die Forschung schon längst gezeigt, dass es nicht die eine Ursache für die ostdeutsche Revolution gab. Das System war marode, die Wirtschaft am Ende, die politischen Eliten waren handlungsunfähig. Das SED-Regime brach aber nicht allein zusammen. Dazu bedurfte es aktiver Menschen. Die einen gingen weg, flüchteten. Sie trugen erheblich zur Systemdestabilisierung bei. Die Opposition rief in Reaktion auf die Ausreisebewegung trotzig und drohend: „Wir bleiben hier!“ Die meisten Menschen aber blieben hinter der Gardine und warteten ab. Sie waren dann später die Beschenkten: Sie erhielten Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit ohne eigenes Zutun.

Phantomschmerz der Westler – wer keine Diktatur erkannte, konnte auch nicht mit einem Aufstand rechnen

Das am 9./10. September 1989 gegründete „Neue Forum“ bot mit den anderen neuen Bürgerbewegungen erstmals einen Ort der öffentlichen Verständigung. Binnen wenigen Wochen bis Anfang Oktober nutzten Tausende Menschen unter hohem persönlichen Risiko diese Chance. Die DDR veränderte sich von unten. Die Menschen sind nicht zufällig auf die Straße gekommen. Diejenigen, die die Leipziger Montagsdemonstrationen als Proteste aus der Kirche in die Gesellschaft trugen, waren Oppositionelle, die sich Jahre vor 1989 in Leipzig organisiert hatten. Ohne ihre Idee, nach dem Montagsgebet auf die Straße zu gehen, hätte es die berühmten Montagsdemonstrationen nicht gegeben. Niemand behauptet, die Bürgerrechtsbewegung habe allein die Revolution gemacht. Aber für eine Revolution braucht es Sammelbecken für Gleichgesinnte.

Was wir wissen, ist nicht nur, dass die Opposition entscheidenden Anteil hatte. Wir wissen auch, dass der Kommunismus nirgendwo einfach so verschwand, nicht einmal in Rumänien oder Bulgarien. Und Kuba ist ähnlich abgewirtschaftet wie die DDR, aber die Diktatur verschwindet nicht. Und Nordkorea ist ein noch drastischeres Beispiel. Dort wiederum ist der Staat noch so stark, dass zurzeit kein Systemsturz in Sicht ist. Sollte der Staat dort aber wanken, so lehrt es die Geschichte, wird die Revolution auch in Nordkorea ohne den ansteckenden Mut weniger, wie in der DDR, nicht möglich sein, um die vielen zum Aufstand zu motivieren.