Eleganz und Schwerkraft

Einen Erfolg für vorsichtige Unvoreingenommenheit verbucht die Wiederaufnahme von Sasha Waltz’ „Impromptus“ im Radialsystem V

Von Astrid Kaminski

Würde Sasha Waltz die „Impromptus“ von Franz Schubert heute choreografieren, dann vermutlich anders. Zur Uraufführung vor 15 Jahren war F.A.Z.-Redakteur Simon Strauß noch ein Schüler. Die Romantikdebatte, die er mit ausgelöst hat, gab es so noch nicht. Inzwischen gibt es nicht nur die Strauß’sche Variante davon, sondern auch den Versuch von links, Romantik aus dem rechten Zugriff zu befreien. Sentiment und Ressentiment steht hier gegen eine éducation sentimentale im idealisierten Sinn, Mystifizierung und geheimbündlerisches Verschwörungstheorienzündeln gegen postkoloniale Kritik der Aufklärung mit dem Ziel, Wissenspraktiken jenseits von Verstandesdenken zu erforschen.

Dass Sasha Waltz’ „Impromptus“ (aus Op. 90 sowie f-Moll aus Op. 142), von alldem nichts wissen, tut ihnen gut. Sie sind ein unvoreingenommenes Spiel mit einer romantischen Ausdrucks­palette, die vor allem durch die zusätzlich eingefügten Kunstlieder ihre Farben erhalten. Liebe und Liebesschmerz, Natursymbolik und Heimatsuche sind ihr Thema, arrangiert zwischen konzentriert ausgearbeiteter Duett-Motivik, aus Improvisationen entstandenem Fluss und oftmals mit leisem Humor gesetzten Stimmungsbildern. Intuitiv scheinen sie eine natürliche (keine ausgestellte) Distanz zu Pathos und übersteigerter Empfindung einzuhalten und dadurch zwischen Nähe und Kommentar angenehm zu alternieren.

Bei Wiederaufnahmen hält sich Sasha Waltz eng an die Vorlage, sodass die „Im­promptus“, wie sie seit Mittwoch im Radialsystem V laufen, weitgehend in Originalform und -besetzung gespielt werden. Was nicht nur in Bezug auf die thematische Unvoreingenommenheit dieser ersten Choreografie zu klassischer Musik von Sasha Waltz erstaunlich ist, sondern auch in Bezug auf die Tänzer_innenleistungen: 15 Jahre können für sie unter Umständen ein ganzes Bühnenleben sein. Durch Reife und Konzentration machen sie fast durchweg wett, was sie an quirliger Kraft eingebüßt haben. Kraft braucht es trotzdem viel, schon allein für die abgeschrägte Bühne, die ein ganz anderes Verhältnis zu Schwerkraft und Balance verlangt.

Die Frage, ob sich die Choreografie mehr Freiraum der Interpretation gegenüber den eigenen Vorgaben nehmen sollte, lässt sich dennoch vor allem aus Respekt für die Tänzer_innen stellen. Sie kommt auf, nachdem der Waltz-Veteran Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola im f-Moll-Impromtu das Duett mit Xuan Shi getanzt hat. Die Hebefiguren funktionieren dabei oft nur durch eine Kontaktstelle mit dem Partner, ohne Bodenkontakt – als würde Paul Celans Vers „Die Welt ist fort, ich muss dich tragen“ getanzt. Danach ist Garaio Esnaola zu geschlaucht, um in den Fluss des Gruppenparts einzutauchen. Ihn an den Rand spülen zu lassen oder die Choreografie so anzulegen, dass die Entkräftung selbst einen Raum bekommt, könnte hier eleganter sein. Eleganz im Umgang mit Kraft führt die Sängerin Judith Simonis vor. Ohne aufgebauschte Dramatik im Timbre, ganz ohne Dräuendes, singt sie sich im makellosen „Mignon“-Kleid durch eine introvertierte, den Raum in sich aufnehmende Schmerzlandschaft. Cristina Marton verlegt sich unterdessen am Klavier mehr auf einen unterstützenden als gestaltenden Gestus – was vielleicht auch eine Reaktion darauf ist, dass der Bühnenraum im Radialsystem zu klein für das ursprünglich an der Schaubühne entstandene Stück ist und Martons Flügel halb hinter den Vorhang abgedrängt wird.

Nach wie vor zentral stehen jedoch die drei Duette. Auf Weltverlust folgt die atmosphärische Auslotung von Nähe, Haltgeben ohne festzuhalten, darauf führt der große Bogen zum so traurigen wie schicksalsergebenen Ende: Ein perfekt in seinen Abläufen synchronisiertes Paar entgleitet sich, die Gravitationskraft des Miteinander scheint erloschen. „Die Liebe liebt das Wandern“ und hinterlässt irrlichterndes Feintuning und die leeren Hüllen ihrer Manifestation im Alltag.

Wieder am 10. + 11. August, 20 Uhr