Klimawandel in der Türkei: „Freiflächen zu Parks umwandeln“
In Zukunft könnte der halbe Sommer in der Türkei mit Hitzewellen vergehen. Das Land braucht eine breite Klimabewegung, findet Klimaforscher Ümit Şahin.
Eine Studie aus Frankreich zeigt, dass Hitzewellen wie die vom Juni infolge des Klimawandels fünfmal wahrscheinlicher geworden sind. Für die nächsten Tage wird in Europa eine erneute Hitzewelle mit Temperaturen über 40 Grad erwartet. Über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Türkei haben wir mit dem Klimaforscher und Mediziner Ümit Şahin gesprochen. Er ist einer der Leiter der Klimastudien der Sabancı-Universität, die dort am Istanbul Policy Center angesiedelt sind.
taz gazete: Herr Şahin, der Meteorologische Dienst der Türkei gibt an, dass zwischen 1971 und 2016 die Häufigkeit der auftretenden Hitzewellen zugenommen habe. Wie sieht Ihre Zukunftsprognose aus?
Ümit Şahin: Der Meteorologische Dienst spricht davon, dass in der Türkei gegen Ende des Jahrhunderts jeden Sommer 48 Tage von Hitzewellen geprägt sein werden, wenn der Klimawandel im gleichen Tempo weitergeht. Das bedeutet, dass die Hälfte eines dreimonatigen Sommers mit Hitzewellen vergehen würde und die Menschen viel mehr Zeit in geschlossenen Räumen verbringen müssen, so wie es in den Golfstaaten der Fall ist. Klimawandel führt dazu, dass Hitzewellen häufiger auftreten und intensiver werden als zuvor.
Was ist eine Hitzewelle?
Normalerweise gewöhnt sich der Körper an den allmählichen Temperaturanstieg vom Frühling zum Sommer. Die zunehmende Hitze kann innerhalb von zwei bis sechs Wochen verarbeitet werden. Wenn aber mitten in diesem Prozess plötzlich Temperaturen von 35 Grad eintreten, ist das eine Hitzewelle.
Wie wirken sich diese außergewöhnlichen Temperaturen auf die menschliche Gesundheit aus?
Extreme Hitze ist ein Stressor, mit dem der Körper nicht so einfach fertig wird. Er setzt insbesondere das Herz und den Kreislauf unter Druck. Wenn die Temperatur der Umgebung höher ist als die Körpertemperatur, kann der Körper die eigene Temperatur nicht mehr durch Schwitzen und Abgabe von Hitze nach außen regulieren.
Wir schützen uns gern mit Klimaanlagen. Macht das Sinn?
Klimaanlagen als Lösung bei Hitzewellen vorzuschlagen ist zunächst einmal sozialpolitisch ziemlich unverantwortlich. Denn am Stärksten betroffen sind neben älteren Menschen einkommensschwache Menschen, die sich ohnehin keine Klimaanlagen leisten können. Sie versuchen, dem mit Ventilatoren beizukommen. Aber bei Temperaturen über 35 Grad ist es falsch, Ventilatoren zu benutzen, weil sie die Auswirkungen der Hitze noch verstärken. Man kann die Auswirkungen des Klimawandels nicht bekämpfen, indem man fossile Brennstoffe verbraucht. Klimaanlagen verbrauchen viel Strom und der wird in der Türkei hauptsächlich aus fossilen Brennstoffen gewonnen. Damit gießt man Öl ins Feuer.
Seit Jahren kämpfen Initiativen dagegen, dass Grünflächen zerstört und Wälder abgeholzt werden. Eine Stadt wie Istanbul besteht fast nur noch aus Beton.
Je mehr Beton und Asphalt man um sich herum hat, desto schlimmer. Denn diese Stoffe werfen die Sonnenstrahlen nicht zurück, sondern speichern die Hitze. In Istanbul ist es in den grünflächenfreien Gebieten um fast fünf Grad heißer als in grünen Stadtgebieten. Wenn jetzt die Außentemperatur zehn Grad ist, machen fünf Grad mehr nicht viel aus. Aber bei 30 Grad machen diese fünf Grad einen echten Unterschied. Um dem entgegenzuwirken, sollten sämtliche Freiflächen in Parks umgewandelt werden und wo das nicht möglich ist, schlagen wir Dachgärten und eine Begrünung senkrechter Flächen vor. Jedes Viertel, jede Straße braucht Grünflächen, damit ein abkühlender Effekt erzielt werden kann.
Was können wir auf individueller Ebene tun, wenn die Staaten ihren Aufgaben nicht nachkommen?
Was wir individuell tun können, ist aktiv zu werden. Wenn Sie mich fragen wie, dann sage ich Ihnen, wir müssen Bewegungen wie Fridays for Future unterstützen. Die Menschen müssen sich zusammentun und einen Druck aufbauen, der eine Veränderung der Regierungspolitik herbeiführt. Es ist die Aufgabe der Bevölkerung, den Kampf gegen den Klimawandel zu einem Thema der nationalen Politik zu machen. Stellen Sie sich vor, in der Türkei gehen eine Million Menschen auf die Straße und fordern die Regierung auf, aktiv zu werden. Kann die Regierung das ignorieren? Wenn wir als Bevölkerung schweigen, kommt das der Regierung entgegen.
In Deutschland sind die Grünen bei den Europawahlen mit über 20 Prozent zur zweitstärksten Partei geworden. Warum hat sich in der Türkei keine grüne Bewegung etablieren können?
In der Türkei gab es eine Grüne Partei. Sie hat sich mit einer anderen Partei fusioniert zu den Grünen / Linke Zukunft. Weil aber später die meisten Grünen die Partei verlassen haben, gibt es derzeit keine Grüne Partei in dem Sinne. Ich glaube, das politische System in der Türkei ist für alternative und kleine Parteien nicht gerade offen. Es gibt eine hohe Wahlhürde von 10 Prozent und eine Partei muss in mindestens 41 Provinzen organisiert sein, um überhaupt Kandidat*innen aufstellen zu dürfen. Das erfordert ziemlich viele Hauptamtliche und eine Menge Ressourcen. Basisbewegungen wie die Grünen, die sich eher aus sozialen Bewegungen zusammensetzen und kaum über Beziehungen zu Geldgebern verfügen, haben es schwer mit der Parteigründung. Die Grüne Partei in der Türkei konnte an den Wahlen nicht teilnehmen und wurde daher in der Gesellschaft nicht als politische Partei wahrgenommen. Derzeit formieren sich aber neue Bündnisse und ich glaube, aktuell hätte eine solche Gründung bessere Chancen. Denn insbesondere junge Menschen suchen nach Auswegen sowohl aus der Klimakrise als auch aus dem stagnierenden politischen System. Es könnte also die Zeit der Grünen in der Türkei ebenso anbrechen wie in Europa. Grundbedingung dafür ist aber die Demokratie.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!