Abschied vom Altruismus

Angreifer Kevin Kuranyi entdeckt den Eigensinn für sich, schießt zwei Tore und damit den FC Schalke 04 zu einem prestigeträchtigen Auswärtserfolg beim Erzrivalen Borussia Dortmund

„Wir haben noch viel Luft nach oben in vielen Bereichen“

AUS DORTMUND DANIEL THEWELEIT

Die Farben Gelb und Schwarz hatten das Westfalenstadion längst verlassen, als dort immer noch eine blaue Wand stand, hingebungsvoll „Ku-ran-yi, Ku-ran-yi“ intonierend. Schalker Spieler, denen in einem Derby beim Rivalen in Dortmund Entscheidendes gelingt, können sich ihres Platzes in den königsblauen Annalen sicher sein. Günter Schlipper und Bent Christensen werden immer noch gehuldigt, weil sie 1992 die Tore zum einzigen Schalker Auswärtssieg in Dortmund zwischen 1972 und 2000 erzielten. Auch Ailton wird wegen seines Siegtores im vergangenen Jahr nicht in Vergessenheit geraten, und nach nur zwei Spielen für Schalke 04 ist Kevin Kuranyi ein Ehrenplatz gewiss. Der Nationalspieler erzielte beide Schalker Treffer zum 2:1-Sieg beim BVB, und ganz nebenbei ackerte, grätschte und kämpfte er noch, dass das Ruhrpottfußballherz vor Freude hüpfte.

„Solche Fans, die schon eine Stunde vor dem Spiel laut gesungen haben, habe ich lange nicht erlebt“, gab Kuranyi die Anerkennung zurück an die Fans. Dann dachte er kurz nach und verbesserte sich: „Eigentlich habe ich das noch nie erlebt.“ Der Stürmer scheint in Gelsenkirchen angekommen zu sein, nachdem er zu Beginn ein paar Probleme hatte, wie Trainer Ralf Rangnick erzählte. Als Millioneneinkauf habe sich Kuranyi die größte Mühe gegeben, „nicht als Egoist aufzutreten“, sagte Rangnick, deshalb spielte er jeden Ball ab, bis der Trainer vorschlug, doch selber abzuziehen. Und gleich schoss er seine ersten beiden Bundesligatore für den neuen Klub.

Zuvor hatte Ebi Smolarek Borussia Dortmund in Führung gebracht, wobei er im Stile eines baggernden Volleyballspielers zu Werke gegangen war, was das Schiedsrichtergespann im Gegensatz zu den allermeisten anderen Anwesenden unter den 80.000 übersah. „Dieses Tor haben uns die Schiedsrichter geschenkt“, meinte Dortmunds Trainer Bert van Marwijk, „und dann haben wir selber zwei Geschenke an die Schalker verteilt.“ Den beiden Kuranyi-Toren waren Fehler von Philipp Degen und Christoph Metzelder vorausgegangen. Der BVB hat nun drei seiner vier Gegentore nach Standards kassiert, nachdem derartige Missgeschicke während der gesamten Rückrunde der Vorsaison vermieden werden konnten. Insgesamt sei es ein „schlechtes Spiel von beiden Seiten gewesen“, monierte van Marwijk wohl aufgrund der hohen Fehlerquote. Dabei hatte auch seine Mannschaft ihren Teil beigetragen zur hohen Intensität.

Die spielerischen Elemente hingegen werden auf Schalker Seite gegenwärtig ohnehin nicht erwartet. Denn Lincoln, der zuständige Meister dieser Kunst, ist weiterhin gesperrt. Fabian Ernst versuchte zwanzig Minuten lang die Rolle des Kreativen zu übernehmen, wurde dann aber schnell wieder auf die defensive Position versetzt, was dem Schalker Spiel merklich gut tat. „Es ist klar, dass die spielerischen Highlights ohne Lincoln momentan etwas zu kurz kommen“, meinte Rangnick und freute sich umso mehr, dass der Brasilianer nach dem nächsten Bundesligaspiel gegen Mönchengladbach wieder mitwirken darf. Nach den bezaubernden Auftritten im Ligapokal mit Lincoln entpuppt sich sein Fehlen im Nachhinein vielleicht sogar als glückliche Fügung, über die Problematik einer Frühform müssen jedenfalls nun eher die Bayern nachdenken, während Schalke bisher zweimal einen Rückstand in einen Sieg verwandelte.

„Siege, in denen das gelingt, sind besonders wertvoll“, merkte Rangnick an und konnte trotz maximaler Punkteausbeute feststellen: „Wir haben noch viel Luft nach oben in vielen Bereichen.“

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass diese Mannschaft eine beeindruckende Souveränität besitzt. Wieder einmal strahlten Mladen Krstajic und Marcello Bordon, der sich allerdings kurz vor Schluss am Sprunggelenk verletzte, eine fast majestätische Gelassenheit aus, Fabian Ernst ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen, und Zlatan Bajramovic, Gerald Asamoah sowie Ebbe Sand assistieren mit unstillbarem Tatendrang. Kuranyi meinte: „Am Ende hat die Mannschaft gewonnen, die einfach ein bisschen stärker war.“ Er traf damit ebenso sicher den zentralen Aspekt dieses Spiels wie zuvor den glühenden Punkt in den Herzen der Schalker Fans.