nebensachen aus vradiyivka
: Ein Königreich für einen Wasserhahn in der ukrainischen Provinz

„Guten Abend! Ist das ein Hotel?“ – „Natürlich!“ Die Frau, die aus dem Flur herausschaut, versteht nicht recht. Ein zweigeschossiger Bau, unten eine Apotheke, nebenan eine verlassene Bar, kein Haupteingang, keine Rezeption, aber eine gekachelte Fassade. Was ist das, wenn nicht das einzige Hotel in Vradiyivka, einem gottverlassenen Kaff in der ukrainischen Provinz zwischen Kiew und Odessa?

„Haben Sie auch Wasser?“ Wasser ist hier in einfachen Hotels ein seltenes Gut. „Natürlich haben wir Wasser!“ Sehr schön, denke ich. Und der Preis, umgerechnet zehn Euro, sowieso, wie immer ohne Frühstück. „Sie sind aus Deutschland? Neulich hatten wir schon mal internationale Gäste …“ Und sie legt los: „Wir sind – Gott sei dank! – noch ein kommunales Hotel, und wir sind stolz darauf.“ Der Komfort sei bescheiden, die Preise aber auch. Sie selbst stamme aus Russland, habe hierher geheiratet, die neue Regierung sei ein Albtraum, es laufe gerade – ihre Augen werden schmal – eine politische Säuberung. Der neue Präsident Juschtschenko jage alle Gegner aus dem Amt. Das da – sie öffnet eine Tür –seien die Toiletten. Zwei Klobecken durch eine hüfthohe Wand leidlich getrennt, die WC-Becken bis zum Rand eingemauert, zwei Stufen führen hinauf. „Und wo sind die Duschen?“ – „Welche Duschen?“ – „Sie redeten doch von Duschen?“ – „Ich? Wie kommen Sie denn darauf? Ich habe nur gesagt, wir haben Wasser, und Wasser“ – sie dreht den Hahn am Waschbecken auf – „haben wir.“

Sie führt ins Obergeschoss. „Bitte sehr, ein schönes Zimmer.“ Zwei schmale Bettchen, fingerdünne Matratzen, ein windschiefer Schrank, ein müdes Tischchen und so viel Platz, dass man sich gerade noch drehen kann. Was will man mehr, wenn draußen ein Gewitter tobt? Das Fenster ist geradezu hermetisch dicht. Was man auch schmeckt: Eine dicke, sehr warme, uralte Luft, ein Brei, als wäre der letzte Gast zu Leonid Breschnews Herrschaftszeiten hier abgestiegen.

„Was, das Fenster geht nicht auf?“ Unsere Hoteldirektorin hängt die Innenflügel des Doppelfensters aus, steigt aufs Tischchen und macht sich an die Fortutschka. Jedes ukrainische Fenster hat eine Fortutschka, ein Fensterchen im Fenster, das man nach Herzenslust öffnen und schließen kann. Nur diese Fortutschka bewegt sich nicht. Die Direktorin klopft, schlägt, zerrt an der armen Fortutschka, dass die nur so stöhnt. Um ein Haar drückt die Frau das ganze Fenster heraus. „Haben Sie was Spitzes?“ Ich gebe ihr mein Taschenmesser, sie rammt es beherzt zwischen Glas und Rahmen, Kitt fliegt umher, sie operiert das erste Nägelchen heraus, dann noch eins und noch eins, bis sie alle hat und das Glas knirschend heraushebelt. „Geschafft!“ Sie reckt das heile Scheibchen in die Höhe. „Ich lege es auf den Schrank, damit es nicht stört.“

Ein leichter Lufthauch zieht durch den Raum. Irgendwann ist die Breschnew-Luft weg. Meine Kehle ist trocken. Beim letzten Toilettenbesuch kriecht ein Mäuschen zwischen den Rohren davon. Immerhin, wir sind nicht allein. Auch die Hoteldirektorin schläft im Haus. Die Scheibe wird bis zum Winter auf dem Schrank liegen, vielleicht auch bis zum übernächsten. Wenn nicht vorher einer kommt, sie mitnimmt und einbaut – in seine Fortutschka. THOMAS GERLACH