Fundgrube der Politästhetik

NEWTOPIA Picasso, Warhol, Ai Weiwei – Katerina Gregos’ große Kunstausstellung zum Thema Menschenrechte im belgischen Mechelen

Fernando Sanchez Castillo lässt in seinem Film zwei Wasserwerfer ein hinreißendes Ballett aufführen

VON INGO AREND

Eine Zelle von zwei mal zwei Metern. So hoch wie ein Mensch, darin ein Stuhl, ein Tisch, eine Kommode. Man könnte den Bretterverschlag am Eingang des Mechelener Kulturzentrums für ein Kunstwerk halten. Doch mit dem Werbemittel will Amnesty International auf das Schicksal von Azimjan Askarov aufmerksam machen. Der 61-jährige Menschenrechtsaktivist und Künstler sitzt seit Juni 2010 in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek in einer unterirdischen Zelle in Haft. Könnte irgendetwas besser verdeutlichen, was dieser Mann durchmacht? Wozu brauchen die Menschenrechte da noch die Kunst?

Um es gleich vorweg zu sagen: „Newtopia“, die Kunstausstellung, die Katerina Gregos in Mechelen kuratiert hat, bringt zwar eine ähnlich geballte Ladung politischer Kunst in die belgische Provinz wie die Berlin-Biennale im Frühjahr an die Spree. Doch selbst diese, im Vergleich zu Artur Zmijewskis Agitprop-Revue klug kuratierte Schau zum „Stand der Menschenrechte“ kämpft mit dem Grunddilemma der politischen Ästhetik: über die Anklage der schlechten Realität selten hinauszukommen.

Mit Mechelen, diesem vergessenen Kleinod Flanderns, rückt ein Flecken mit einer Geschichte ins europäische Bewusstsein, der paradigmatisch für den Widerspruch steht, den die erste internationale Großausstellung zum Thema Menschenrechte zeigt. Im 16. Jahrhundert war die heute 80.000 Einwohner zählende Stadt, die Hauptstadt der habsburgischen Niederlande, ein Hort des Rechts. Hier residierte deren Oberstes Gericht.

In den Jahren 1942 bis 1944 schrieb die Stadt traurige Rechtsgeschichte, als die Nazis sie zur Sammelstelle machten, von dem aus sie 28.500 belgische Juden, Sinti und Roma nach Auschwitz-Birkenau deportierten. Die Ausstellung flankiert die Eröffnung der frisch renovierten Gedenkstätte und des weltweit ersten „Museums des Holocaust und der Menschenrechte“ in der ehemaligen Kaserne Dossin.

Katerina Gregos liebt die Gefahr. Im Jahr 2005 kuratierte die couragierte Griechin, lange Chefin der Argos-Kunststiftung in Brüssel, eine Schau mitten auf der „Grünen Linie“ durch das geteilte Zypern. In Mechelen wollte sie die sattsam bekannten Stereotype der Menschenrechtsästhetik überwinden: hungernde Kinder, Menschen hinter Stacheldraht, der einsame Streiter in einer Zelle. Nicht nur vor dem Hintergrund von Mechelens Historie ist das ein Wagnis. Ironie und Spiel stehen bei dem heiklen Thema sofort unter Zynismusverdacht. Dass es Gregos, die in diesem Sommer auch die europäische Wanderbiennale Manifesta in Genk mit verantwortete, nicht vollständig gelingen konnte, liegt in der Natur des Gegenstandes. Macht die Ausstellung aber nicht weniger spannend.

Newtopia ist eine wahre Fundgrube der entwickelten Politästhetik: Sie reicht von Klassikern wie Picassos „Weinender Frau“ von 1937 über Andy Warhols „Electric Chair“ von 1963 bis zu einem Video mit dem am Kopf lädierten Ai Weiwei von 2009. Und gleich am Eingang steht der Besucher vor Mona Hatoums Skulptur „Hot Spot“ von 2006: Der Globus als Drahtkäfig, in gefährlicher Seitenlage, die Umrisse der Kontinente leuchten als grellrote Neonröhren. Kein UN-Report könnte klarer zeigen, wie prekär die Lage der Menschenrechte, 64 Jahre nach ihrer Verkündung am 10. Dezember 1948, noch immer ist.

Das ist weit entfernt von tätiger Menschenrechtspropaganda oder Amnesty-Look. Doch selbst bei weniger kanonisierten Künstlern von heute dominiert oft genug eine spröde Dokumentarästhetik: Der 1982 geborene Nikita Kadan druckt die Foltermethoden in der Ukraine auf Porzellanteller, der 1930 geborene südafrikanische Fotograf David Goldblatt hält in seiner Fotoserie „Fietas“ von 1977 die Zwangsräumung eines von Migranten bewohnten Vororts von Johannesburg durch das Apartheidregime fest.

Das setzt genau die Trennung in Opfer und Betrachter fort, die das Genre problematisch macht, der Täter taucht fast nie auf. Selten dagegen findet sich ein Werk, das so zur poetischen Metapher für das Gefühl einer unentrinnbaren Bedrohung wird wie Jan Svankmeiers „The Flat“ aus dem Jahr 1968. In dem kafkaesken 16-mm-Film scheinen sich die Gegenstände einer Wohnung plötzlich gegen ihren Bewohner verschworen zu haben.

Das „Newtopia“ nicht zur ästhetischen Klagemauer der Menschenrechte geworden ist, liegt auch an Gregos’ weitem Menschenrechtsbegriff. In dem Film des griechisch-amerikanischen Künstlerpaars Dimitris Kotsaras & Jennifer Nelson schreitet ein Mann mit einem blutenden Fisch auf den Armen durch eine verrottete Landschaft und begräbt das tote Tier am Ende zwischen Unrat. „Stand der Menschenrechte“ umfasst auch das Recht auf eine gesunde Umwelt zum Beispiel.

Wer die gescheiterten Gesellschaftsutopien des 20. Jahrhunderts Revue passieren lässt, wird der Kuratorin zustimmen, dass die Menschenrechte die letzte große Utopie geblieben sind. Für kaum ein politisches Konzept setzen sich heute Menschen mit derselben Leidenschaft ein. Die utopische Ausbeute ihrer Schau fällt dennoch schmal aus. Es sei denn, man betrachtet Thomas Kilperts Idee eines Leuchtturms für die italienische Flüchtlingsinsel Lampedusa schon als den Vorschein einer besseren Gesellschaft.

Am ehesten transportiert noch Fernando Sanchez Castillos „Pegasus Dance“ etwas davon. Der spanische Künstler, Jahrgang 1970, lässt in seinem Film von 2012 zwei Wasserwerfer im Hafen von Rotterdam ein hinreißendes Ballett aufführen: Die schweren Gefährte, klassische Symbole der Unterdrückung, umkreisen sich wie Verliebte, speien aufgeregt Wasser und simulieren am Ende einen Kuss, wenn sie frontal aufeinander zufahren. Auch wenn Castillo hier „nur“ die naive Utopie Liebe aufruft, gehört das Video zu den schönsten Arbeiten der Schau. Denn dieses circensische Manöver zeigt und besitzt die stärkste Waffe gegen jede Menschenrechtsverletzung: Humor und Schönheit.

Newtopia – The State of Human Rights. Mechelen, bis 10. 12. Katalog, Verlag Ludion, 27,90 Euro