„Wir können Leute nicht zum Bleiben zwingen“

Bleibt der Osten die arme Verwandtschaft des Westens? Heimatstaatssekretär Markus Kerber bestreitet das. Ein Gespräch über den Anspruch auf gleichwertige Lebensverhältnisse und Realpolitik an Bushaltestellen

Schön und schön leer: Röttelmisch bei Gumperda bei Kahla nahe Jena in Thüringen in Ostdeutschland Foto: René Zieger/Ostkreuz

Interview Anja Maier

taz: Herr Kerber, Sie sind Bundesinnenminister Horst Seehofers Heimatstaatssekretär. Vor einem Jahr wurde die Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ gegründet, Sie als Staatssekretär koordinieren deren Arbeit. An diesem Mittwoch wird der Bericht dem Kabinett vorgelegt. Was hat die Kommission erreicht?

Markus Kerber: Die Bundesregierung ist sich einig, dass wir zu einer viel stärkeren Strukturpolitik zurückkehren müssen.

Was ist damit konkret gemeint?

Das Handeln des Staates in Fragen der Infrastruktur und Daseinsvorsorge muss sichtbarer werden. Die Problemlagen im Land sind ja unterschiedlich: Wohnraumverknappung in den Städten, zu wenig Infrastruktur auf dem Land. Um das zu ändern, machen wir eine andere, mindestens auf ein Jahrzehnt angelegte Ausgabenpolitik. Künftig müssen die Ressorts bei ihren Ausgaben die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse berücksichtigen. Das heißt, wenn etwa unser Ministerium Stellen aufbaut, gehen die nicht nach Hamburg, München oder Düsseldorf, sondern in strukturschwache Regionen. Nicht nur in den Osten Deutschlands, nebenbei bemerkt.

Interessant. Gerade hat ihr Minister eine Absichtserklärung zur Errichtung einer Cyberagentur im Raum Halle/Leipzig in Aussicht gestellt. Hundert Arbeitsplätze könnten – Konjunktiv! – entstehen. Derweil holt die Bundesforschungsministerin von der CDU die Batteriezellforschung in ihren eigenen Landesverband. 100 Stellen für die Sachsen, 500 Millionen Euro für die Münsterländer. Wenn’s konkret wird, ist der Osten komischerweise leider nicht dabei. Oder?

Jetzt vermengen Sie etwas. Es gibt die Ost-West-Frage und es gibt die Stadt-Land-Frage. Bei der Batteriezellforschung scheint bislang die ländliche über die städtische Region gesiegt zu haben, beim Ost-West-Paradigma der Westen mal wieder über den Osten. Im Übrigen zeigt sich ja hier gerade, dass die Nichtbeachtung strukturpolitischer Erwägungen zu politischen Diskussionen führt. Strukturpolitik ist wieder ein Wert, das ist gut.

Nun ist es aber so, dass in Ostdeutschland in wenigen Wochen drei Landtage gewählt werden. Die Botschaft dorthin ist doch: Ihr kriegt vielleicht 100 Stellen, mal sehen. Und in Ibbenbüren, bei Frau Karliczek, beginnt jetzt die Zukunft.

Die Stellen in Halle/Leipzig werden entstehen, da können Sie sicher sein. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik wird einen zweiten Standort in Freital bei Dresden aufbauen. In Brandenburg an der Havel soll es eine Schule des Technischen Hilfswerks geben. Die Bundespolizei wird in Sachsen um 500 Stellen bis ins Jahr 2014 gestärkt. Das sind konkrete Maßnahmen. Wir reden hier also nicht nur von ein paar hundert Stellen, sondern von vierstelligen Zahlen: In den Kohlerevieren sollen 5.000 neue Arbeitsplätze des Bundes geschaffen werden – ein Großteil davon entfällt auf die neuen Bundesländer. Wir haben übrigens zugesagt, dass allein 1.500 Arbeitsplätze aus dem Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums kommen.

Hand aufs Herz: Muss der Osten einfach akzeptieren, dass er dem Westen dauerhaft unterlegen bleibt, dabei aber gut aussehen darf, weil er mit Steuermilliarden durchsaniert worden ist?

Wissen Sie, wir haben 54 Indikatoren für unseren Deutschlandatlas angelegt, den wir am Mittwoch veröffentlichen werden. Nach denen kann man Deutschland grob in drei Regionen unterteilen: den sehr stark prosperierenden Süden, den uneinheitlich sich darstellenden Norden der alten Bundesrepublik, und die neuen Bundesländer. Dort leben zu wenige Menschen, für die es im Schnitt zu wenige öffentliche Güter gibt.

Der Termin Am Mittwoch wird im Bundeskabinett der Bericht der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ vorgestellt. Anschließend präsentieren Innenminister Horst Seehofer (CSU), Familienministerin Franziska Giffey (SPD) und Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) in der Bundespressekonferenz „Schlussfolgerungen“ daraus. Laut Tagesspiegel soll der Berichtstext wegen der baldigen Ostdeutschland-Wahlen nicht veröffentlicht werden.

Die Kommission Die Regierungskommission wurde auf Grundlage des Koalitionsvertrags gebildet. Sie sollte Handlungsempfehlungen mit Blick auf Regionalität und Demografie erarbeiten.

Der Bericht Laut Funke-Mediengruppe konstatiert der Bericht „erhebliche Disparitäten in den regionalen Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten“. In der Kommission gab es Streit, weil künftig die Förderpolitik des Bundes nicht länger nach Ost und West, sondern nach „Bedarfslagen“ ausgerichtet werden soll. (am)

Was ist damit gemeint?

Ein Beispiel ist der öffentliche Nahverkehr: Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern Berufsschüler, die über eine Stunde Fahrtweg zur Schule haben und für die nur drei Busse am Tag fahren. Wenn sich das nicht bessert, werden noch mehr Menschen von dort weggehen und die Situation wird noch angespannter.

Mehr Busse, reicht das?

Wir können ja nicht die Leute zwingen, dort zu bleiben. Aber um sie zum Bleiben zu bewegen, müssen wir das Angebot öffentlicher Daseinsvorsoge deutlich verbessern. Wir wollen gegensteuern, der Bundesinnenminister ist fest überzeugt von diesem Weg. Die anderen Ressorts davon zu überzeugen, war vielleicht die schwierigste Aufgabe des zurückliegenden Jahres.

Was Sie beschreiben, sind mittel- und langfristige Projekte, während die Rechten den Menschen schnelle Lösungen versprechen.

Sie haben recht: Vieles davon, was wir hier konzipieren, dauert Jahre, bis es greift. Andere Maßnahmen werden noch in dieser Legislaturperiode ihre Wirkung zeigen. Aber wir müssen uns dreißig Jahre nach der Einheit fragen: Was hat gewirkt und was nicht. Und dort, wo politisches Handeln nicht so gewirkt hat wie erwartet, müssen wir gegensteuern. Im ganzen Land übrigens.

Wenn es bei den Landtagswahlen so kommt, wie es die Prognosen sagen, wird nach diesen Wahlen das Land noch aufgewühlter sein als jetzt. Schwere Zeiten für den Heimatstaatssekretär. Wie bereiten Sie sich darauf vor?

Foto: René Bertrand/BMI

Markus Kerber

55, ist Wirtschaftswissenschaftler und seit 2018 Heimatstaatssekretär im Bundesinnenministerium von Horst Seehofer

Wahlen sind Seismografen gesellschaftlicher Gefühls- und Lebenslagen. Unzufriedenheit in der Bevölkerung wird ventiliert – und Politik und Verwaltung müssen darauf reagieren. Die Heimatpolitik der Bundesregierung ist ein Versuch, das Wahlergebnis von 2017 entsprechend zu interpretieren. Das ist Realpolitik.

Vor einem Jahr haben Sie im taz-Interview gesagt, das Land sei „aufgewühlt“. Es ist mittlerweile schlimmer geworden, oder?

Deutschland ist seitdem nicht aufgewühlter geworden. Wir wissen inzwischen aber mehr darüber. Es wird immer offensichtlicher, dass die offene Gesellschaft des Westens in einer Phase des Umbruchs steckt.

Ist denn in diesem Jahr etwas besser geworden?

Ja. Noch nie zuvor haben so viele Menschen in der Bundesrepublik gelebt wie im Jahr 2018. Laut Statistischem Bundesamt sind wir erstmals 83 Millionen Menschen. Vor zehn, 15 Jahren haben wir alle noch gemeint, dass die deutsche Bevölkerung schrumpft. Stattdessen werden wir durch Zuwanderung mehr, vor allem aus der EU. Das heißt natürlich auch, dass es in diesem Land in einigen Regionen enger wird – und angespannter.