ausgehen und rumstehen
: Die Folterkeller der Kindheit waren viel größer als die Backstage der Seele

1. Es ist Sonntag spät und mein Fleisch marmoriert von Müdigkeit, doch mein Geist schlägt hospitalistisch mit dem Kopf gegen die Innenseite meines Schädels. Ich stecke ihn in die für solche Fälle vorgesehene Gummizelle Fernseher. Ein Eifersuchtsdrama von Truffaut endet mit einem tragischen Mord, der mit Hilfe von Handys hätte vermieden werden können. „Wissen Sie, wie spät es ist“?, fragt sie. Er sieht auf die Uhr: „Oh, schon Viertel nach eins.“ Ich sehe auch auf die Uhr. Es ist tatsächlich Viertel nach eins! Gespenstisch.

Es passieren in letzter Zeit öfter so Sachen. Gestern zum Beispiel beim Summerize-Festival ist mir spontan ein Glas in der Hand explodiert. Heute Morgen erzählte mir die Daheimgebliebene J., in einem Horrorfilm wäre jemandem, fast exakt zur selben Zeit, das Gleiche passiert. Vielleicht bin ich durch ein Psi-Feld oder so was mit dem TV-Programm verbunden. Was für eine nutzlose metaphysische Begabung das wäre, ähnlich wie die der Leute, die von Engeln heimgesucht werden, damit sie uns anschließend Dinge bestellen können wie „Die Menschen sollen höflicher zueinander sein“ oder „Krieg ist schlecht“. Die alte indische Vorstellung vom Hamsterrad der Wiedergeburt ist sicherlich weniger deprimierend als die eines mit Live-8-Engeln bevölkerten Jenseits.

Vielleicht ist mir das Sektglas aber auch nur zersprungen, weil Feedom so einen seltsamen Sound hatten. Schwierig, gegen einen schlechten Mix anzuspielen, wenn man instrumentalen, hypnotischen One-Riff-Rock macht – vor allem, wenn die Stimmung vorher schon unten ist. Aber schließlich handelte es sich um eine abgebrühte Allstar-Band (Peaches, Gonzales, Taylor Savvy), und nach einer unbeirrbar energetischen Stunde hatten sie uns lahmes Publikum endgültig in der Tasche. Ganz zum Schluss durften wir uns aus drei Riffs noch eins aussuchen. Die Mehrheit wählte Nummer eins, drei wäre richtig gewesen.

2.Später im Backstage sind viele Berühmte. Man könnte denken, es ginge dann (by the power of „endlich mal unter sich sein“) besonders entspannt zu, in Wirklichkeit stresst der Gedrängefaktor. Vielleicht meine ich das aber auch nur wegen meiner eigenen Nervosität, in die mich ein Charakter versetzt, von dem ich nie weiß, woher ich ihn kenne. Zunächst starrt er mich und meine Gesprächspartnerin nur unverwandt an. Dann holt er eine Spielzeugpistole heraus, um erst auf mich zu feuern und sie sich anschießend selbst an die Schläfe zu halten. Versteht mich nicht falsch, ich sehne mich nicht nach den Umgangsformen viktorianischer Gesellschaftsromane, aber die Mittel zur Kommunikationsanbahnung sind in unseren Kreisen schon etwas runtergekommen.

Rede mit Doc Schoko über seinen meinem Geburtsort benachbarten Geburtsort Altena. Früher gab es dort mal ein gutes Label und eine Burg. Jetzt gibt es nur noch die Burg, die ich vor ein paar Jahren mal wieder besuchte, um einer englischen Freundin was zu bieten. Als Kind kam mir der Folterkeller viel größer vor.

JENS FRIEBE