Er fliegt und fliegt und fliegt

Der Wurf ihres Lebens: Christina Obergföll schleudert den Speer über 70 Meter. Danach ist die 23-Jährige ratlos. Weltmeisterin wird die Kubanerin Osleidys Menéndez mit Weltrekord-Weite

AUS HELSINKI FRANK KETTERER

Werner Daniels stand am Absperrgitter und er war auf der Suche nach Worten. Es musste sich um eine einigermaßen schwere Suche handeln, das konnte man sehen. „Ich weiß doch gar nicht, was ich dazu sagen soll“, sagte er: Unbeschreibliches lässt sich nicht immer gleich in Worte fassen. Dabei hätte Daniels noch am ehesten darauf vorbereitet sein müssen, schließlich hatte er die Bilder schon einmal gesehen. „Vor einer Woche habe ich geträumt, dass Christina Weltrekord wirft, allerdings beim Einwerfen“, verriet Daniels. Seine Augen flackerten aufgeregt, als er das erzählte.

Eintrag in Annalen

Christina Obergföll, 23 Jahre alt, wohnhaft im badischen Offenburg, Studentin für Sport und Englisch an der Uni Freiburg, hat, das nur vorweg, am Sonntagabend bei der Leichtathletik-WM im erstmals seit langem nicht regnerischen Helsinki keinen Weltrekord geworfen. Das hatte gleich zu Beginn eines der denkwürdigsten Wettbewerbe in der Geschichte des Frauenspeerwerfens eine andere getan. Im ersten Versuch hatte die kubanische Olympiasiegerin Osleidys Menéndez den Speer auf 71,70 Meter geworfen, und wie sicher sie sich ihrer Sache danach war, konnte man daran erkennen, dass Frau Menéndez sich eine kubanische Fahne umwickelte und sich schon mal feiern ließ, obwohl der Wettkampf doch gerade erst begonnen hatte. Doch dann war Obergföll zum zweiten Mal an der Reihe. Sie packte ihren Speer, lief an, und warf, so wie sie es schon ein paar tausend Mal in ihrem Leben getan hat. Aber diesmal war es anders, das spürte sie sofort. Es war Rückenwind, aber nur ein wenig, genau wie es sein sollte. Der Speer lag prächtig in der Luft, er flatterte nicht, kein bisschen. Er flog in hohem, weiten Bogen. Und flog. Und flog. Und flog. Und als er dann doch noch landete, leuchteten auf der Anzeigetafel 70,03 Meter auf und Obergföll schlug die Hände vors Gesicht und sank auf die Knie. Was Menéndez in diesem Moment gedacht hat, ist nicht bekannt, nach Feiern jedoch wird ihr nicht mehr so sehr zumute gewesen sein.

Okay, der Paukenschlag von Christina Obergföll war kein Weltrekord, aber doch nur knapp darunter. Er war nicht im Einwerfen passiert, sondern im WM-Finale – und steht jetzt für immer in den Annalen des Speerwerfens. Mit einer persönlichen Bestleistung von 64,59 Meter war die Deutsche nach Finnland gereist; das ist wirklich gut, aber nicht außergewöhnlich. Nun ist sie Vizeweltmeisterin – sowie die unangefochtene Nummer zwei in der Hall of Fame ihres Sports: Erst vier Würfe über 70 Meter, die von Helsinki eingerechnet, gab es, seitdem Frauen die neuen Speere werfen. Drei davon gehen auf das Konto von Menéndez, der feiernden Kubanerin, der vierte aber gehört Christina Obergföll. Erst gar nicht zu erwähnen braucht man deshalb, dass es sich bei den 70,03 Meter sowohl um den neuen deutschen als auch den neuen Europa-Rekord handelt.

Richtige Diagnose

Also: ein Traum? Ein Wunder vielleicht gar? „Ein Wahnsinn“, sagte Christina Obergföll, ja, das auf jeden Fall. „Vorläufig der Wurf ihres Lebens“, urteilte Daniels, der Trainer, „richtig optimal.“ Eine Sensation, meinte Steffi Nerius, die Olympiazweite, von der man eigentlich erwartet hatte, dass sie der Kubanerin würde Paroli bieten können. Gleich im erstem Versuch hatte sie 65,96 Meter vorgelegt, was zum Auftakt so schlecht nicht war. Doch dann gelang erst Menéndez der Weltrekord, dann Obergföll der Wunderwurf. „Das hat mich völlig durcheinander gebracht“, gab Nerius zu. Mehr als 65,96 Meter und Bronze wurden es nicht für sie. Sie lächelte tapfer, obgleich sie enttäuscht war. Am Ende konnte Nerius einem sogar Leid tun. „Ich habe gewusst, dass ich Steffi in absehbarer Zeit mal schlagen werde,aber dass es so schnell geht …“, sagte Christina Obergföll.

Die junge Frau aus Baden ist mit nur einem Wurf zur neuen Nummer eins im Land geworden und mithin zum neuen Sternchen der deutschen Leichtathletik. Das ist natürlich großartig für die Athletin, aber sie muss auch höllisch aufpassen; denn wie viele Sterne hat man aufleuchten und verglühen sehen? Vielleicht hat Werner Daniels auch daran gedacht, als er all die Medienmenschen, die sich in Helsinki plötzlich um Christina Obergföll geschart haben, darauf aufmerksam gemacht hat, dass sein Schützling „auch mal wieder nur 63 Meter werfen wird“. Und auch Obergföll schien das so zu sehen, jedenfalls hat sie gesagt: „Ich weiß nicht, wie oft mir so ein Wurf rausrutscht. Man darf nicht erwarten, dass ich jetzt jeden Tag 68 Meter werfe.“ Sie sollte sich diesen Satz gut merken. 70 Meter können auch eine Bürde sein, vielleicht wirft sie ihr Leben lang nicht mehr so weit.

Andererseits: Nach allem, was man in Helsinki von Obergföll und ihrem Trainer gehört oder gesehen hat, scheint es nicht so, als müsse man sich allzu große Sorgen um sie machen. „Behutsam an die ganz großen Weiten heranführen“, will sie unvermindert Coach Daniels, was schon deshalb klug erscheint, weil der Speerwurf eine körperverschleißende Angelegenheit ist. Auch Christina Obergföll hat da schon ihre Erfahrungen gesammelt: Annähernd zwei Jahre litt sie an einer nicht richtig diagnostizierten Knorpelabsplitterung in der Hüfte, erst seit Januar 2004 kann sie wieder richtig trainieren. „Im Training haben wir noch Reserven“, so der Trainer, auch bei den Kraftwerten gebe es „noch Nachholbedarf“. Aber das hat Zeit, gerade jetzt, da sie eine Rekord-Werferin geworden ist, Christina Obergföll ist erst 23. „Wir wollen eine Schublade nach der anderen aufmachen“, sagt Werner Daniels. In der Lade, die beide in Helsinki öffneten, steckte ein großer Wurf.