Auch die Blumen helfen nicht mehr weiter

Die französische Autorin Violaine Huisman schreibt in der bemerkenswerten Autofiktion „Die Entflohene“ über ihre manisch-depressive Mutter

Von Jan Jekal

Violaine kauft ihrer Mutter vom Taschengeld Blumen. Als Zeichen ihrer Liebe und zur Aufmunterung. Gegen die Depression der Mutter, ihre Bulimie, ihren Alkoholismus, ihre Schmerzmittelabhängigkeit kommen die Blumen nicht an. Wenigstens lindern sie die Schuldgefühle der Tochter, zumindest für kurze Zeit.

Es ist nicht leicht, die eigene Mutter weinen zu sehen, den ganzen Tag, jeden Tag, und sich dann nicht schuldig zu fühlen. Es ist unmöglich, sich nicht schuldig zu fühlen, wenn die Mutter einem Vorwürfe macht, wie es bei Violaine der Fall ist, und ihre in Aggressivität verwandelte Traurigkeit an den beiden jungen Töchtern auslässt.

„Ihr kotzt mich an, mit euren bescheuerten Problemen!“, brüllt Catherine ihren beiden Kindern entgegen. „Hör auf zu weinen, verdammt nochmal!“, schreit sie, dabei ist es ja sie, die ständig weint. „Soll ich dir eine runterhauen, damit du weißt, warum du weinst?“ Dann bedeckt sie ihre Kinder mit Küssen, „einem ganzen Regen von Küssen“.

Violaine Huismans Debütroman „Die Entflohene“ lässt sich zur literarischen Gattung der Autofiktion zählen; Autobiografisches wird mit Erfundenem verwoben, die Realität ist Ausgangspunkt für Ausgedachtes, erst in der Verbindung von beidem tritt die Wahrheit zutage. Huisman nähert sich ihrer Mutter nicht allein durch ihre Erinnerungen, sondern macht sie zum literarischen Charakter, zur komplexen Figur, deren Mutterschaft nur ein Teil ihrer Person ist.

Nichts ist für Kinder schwerer zu akzeptieren, als dass die Mutter nicht nur Mutter ist, sondern dass sie neben dieser Identität weitere, womöglich erfüllendere Identitäten in sich trägt. Zumal sie ja nur als Mutter bekannt ist und die Zeit vor der eigenen Geburt nur in Anekdoten überliefert, in Fotografien und Videoaufnahmen, in Geschichten, die sich mit jedem neuen Erzählen ein wenig verändern. „Zu der Frau, die existiert hatte, bevor sie mich geboren hat, habe ich keinen Zugang“, schreibt Huisman. Ihre Mutter als noch kinderlose Frau bliebe eine ferne Figur. „Deshalb schrieb ich ihr meine Vorstellung von dem zu, was ihre Geschichte hätte sein können, ihre Gedanken, ihre Entscheidungen.“

Die mehr oder weniger fiktionalisierte Biografie von Cathe­rine macht den zweiten und umfangreichsten Teil des dreiteiligen Romans aus. Huis­man zeichnet ihre Mutter als armes Geschöpf, von Anfang an einer unerträglichen Umwelt ausgesetzt. Als Produkt einer Vergewaltigung ist sie ein Kind, das ungewollter nicht sein könnte; ihre Mutter, noch ein Teenager, hat eigentlich Ballerina-Ambitionen und versteckt den Bauch, bis es nicht mehr möglich ist. Catherine ist ein kränkliches Kind, bekommt all das, wogegen man sich heute impfen lässt, verbringt ihre ersten Lebensjahre im Krankenhaus, wird dann mit zwei verschieden langen Beinen entlassen, soll trotzdem Ballett lernen. Ihre Mutter hat den Vergewaltiger übrigens heiraten müssen; eines Nachts legt er sich zu Catherine und reibt sich an ihr.

Das ist ganz schön viel Elend für eine Person. Irgendwo müssen die psychischen Erkrankungen ihrer Mutter ja herkommen, hat Huisman gedacht. Vielleicht ist es wirklich alles passiert. In jedem Fall gerät „Die Enflohene“ nicht zum Tragödien-Porno, weil Huisman hier unsentimental, fast flapsig schreibt. Zum Beispiel heißt es: „Sie trifft den Jungen vom Zeltplatz und bittet ihn, mit ihr zu schlafen. Sie zieht es vor, die Jungfräulichkeit nicht an den Vater zu verlieren. Das wäre also erledigt.“

Als Erwachsene nimmt Cathe­rine den Namen von jedem Mann an, den sie heiratet. Es hilft nichts. Die Medikamente helfen auch nicht, das Trinken hilft nicht, das Ballett hilft nicht, die Kleider helfen nicht. Später helfen auch die Blumen ihrer Tochter nicht. Wie Jack Kerouac, der kreuz und quer durch Amerika reiste und dann wieder zurück und dann noch mal von vorn, um am Ende begreifen zu müssen, dass er sich selbst nicht entkommen konnte, flüchtet Cathe­rine mit manischer Energie von Leben zu Leben, von Nachname zu Nachname und bleibt doch die Gefangene ihrer Stimmungsschwankungen, ihrer Lebensmüdigkeit, auch ihrer Minderwertigkeitskomplexe.

Zur „Entflohenen“ wird sie erst durch ihren Suizid, den sie spät begeht, in einem Alter, wo man nicht mehr damit rechnet, dass jemand, der so lange ausgehalten hat, doch noch kapituliert. Die andere Entflohene, vielleicht, ist Violaine Huisman, die sich mit diesem Buch freischreibt von Schuldgefühlen, von der Trauer, von der alles dominierenden Erinnerung an ihre Mutter.

Violaine Huisman: „Die Entflohene“. Aus dem Französischen von Eva Scharenberg. Fischer, Frankfurt a. M. 2019, 256 Seiten, 22 Euro