: Visegrád great again
Osteuropäisches Vierer-bündnis gegen Mitte-links-Politiker Frans Timmermans
Aus Warschau Gabriele Lesser
Das Brüsseler Gerangel um die neuen EU-Spitzenpositionen rief bei vielen in Polen ein historisches Déjà-vu-Erlebnis hervor. Frans Timmermans aus den Niederlanden, der Favorit für den Vorsitz der Europäischen Kommission, wirkte im Land an der Weichsel wie ein Kandidat für die Königswahl. Über Jahrhunderte hinweg war jeder polnische Adelige wahlberechtigt, egal ob reich oder arm. Verhandelt und gestritten über die Kandidaten wurde meist wochen- oder monatelang: Wer wird am meisten Nutzen von welchem Kandidaten haben? Wer am meisten Schaden? Wen kann man kaufen? Wie teuer wird das Ganze? Das Wohl des ganzen polnischen Staates spielte dabei keine allzu große Rolle. Auch Tschechen und Ungarn trugen einmal die polnische Krone. Diese drei Länder, die sich positiv an die gemeinsame Geschichte zurückerinnern, bildeten kurz nach der politischen Wende 1991 die „Visegrád-Gruppe“, kurz „V3“ genannt. Sie formulierten Ziele, die sie gemeinsam erreichen wollten.
In Brüssel versuchte dieser Tage die inzwischen „V4“ genannte Gruppe möglichst viel Sand ins Getriebe zu streuen. V4 heißt sie, seit 1993 die beiden Staaten Tschechien und Slowakei entstanden und so aus dem Dreier- ein Viererbündnis wurde. Kaum hatte sich am Montag eine Mehrheit der EU-Mitglieder für den Mitte-links-Politiker Frans Timmermans als neuen Kommissionsvorsitzenden ausgesprochen, bezeichneten Politiker der V4-Gruppe ihn als „völlig inakzeptabel“. Polens Premier Mateusz Morawiecki nannte Timmermans, der in seiner bisherigen Funktion als Erster Vizepräsident der EU-Kommission zwei Rechtsstaatsverfahren gegen Polen auf den Weg brachte, einen „Politiker, der Europa sehr stark spaltet und der Zentraleuropa, das sich aus dem Zusammenbruch des Postkommunismus heraus neu erschaffen muss, nicht versteht“. Die Rechtspostille Do Rzeczy (Zur Sache) informierte ihre Leser darüber, dass es im Büro der polnischen Delegation wie in einem Taubenschlag zuging. Alle wichtigen Politiker in der EU hätten dem Polen ihre Aufwartung gemacht, nachdem dieser die V4-Gruppe auf einen Gegenkurs gegen Timmermans und die „großen vier“ gebracht hatte, die auf dem G20-Gipfel im japanischen Osaka beschlossen hatten, Timmermans als Kompromisskandidaten zu unterstützen. Gemeint waren Deutschland (Merkel), Frankreich (Macron), die Niederlande (Rutte) und Spanien (Sánchez).
Angeblich, so hieß es in regierungsnahen Kreisen in Warschau, soll Morawiecki den „Großen“ auch gedroht haben, dass ein V4-Bremsklotz künftig die EU-Reformpolitik massiv behindern werde, sollte Timmermans mit qualifizierter Mehrheit, aber gegen den Willen der Visegrád-Gruppe gewählt werden.
Das ehemalige Ziel der V4, die regionalen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen innerhalb von Nato und EU besser durchzusetzen, ist längst in den Hintergrund gerückt. Heute soll die EU schwach sein, einen schwachen Kommissionspräsidenten und einen schwachen Ratspräsidenten haben: denn für die Nationalpopulisten der V4-Gruppe zählt heute etwas anderes: „Make Poland, Hungary, the Czech and the Slovak Republic great again!“ – und dies auf Kosten der EU. Denn die neue Größe und der Wohlstand steht den zentraleuropäischen Staaten angeblich zu – nach den langen Jahren der Entbehrungen im Kommunismus.
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