„Exklusive Kontrolle“

Der Abzug aller Israelis aus dem Gaza-Streifen ändert völkerrechtlich lediglich den Charakter der Besatzung. Ein ehrliches Ende ist er nicht

GENF taz ■ Mit dem Abzug aller illegalen jüdischen Siedler und israelischen Besatzungssoldaten aus dem Gaza-Streifen ende auch die Verantwortung Israels für die dort lebenden 1,2 Millionen Palästinenser, hat die Regierung Scharon in ihrem Abzugsbeschluss von Anfang Juni verkündet. Aus dem Völkerrecht lässt sich allerdings durchaus das Gegenteil ableiten.

Laut der 4. Genfer Konvention von 1949 hat Israel als Besatzungsmacht im Gaza seit 1967 immer wieder gegen zahlreiche völkerrechtliche Verpflichtungen verstoßen – unter anderem durch die Ansiedlung eigener Zivilisten in den besetzten Gebieten, durch Häuserzerstörungen, Folter, Administrativhaft, Deportationen, Exekutionen sowie durch die Verhängung von Kollektivstrafen, etwa die Abriegelungen ganzer Gebiete. Zudem hat die israelische Armee bei ihren militärischen Operationen im Gaza-Streifen häufig die Anforderungen der 4. Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung verletzt, unter anderem zur Gewährleistung medizinischer Versorgung.

Mit dem Abzug aller israelischen Soldaten aus Gaza endet zwar die unmittelbare „militärische Gewalt“ über das Territorium und damit die „Besetzung“, die völkerrechtlich in der „Haager Landkriegsordnung“ von 1907, dem Vorläufer der Genfer Konventionen, erstmals definiert wurde. Doch auch für die Zeit nach Abzug aller Soldaten will Israel laut dem Beschluss der Regierung Scharon rings um das Gaza-Territorium Soldaten stationieren. Israel besteht auf der „exklusiven Kontrolle“ aller Landzugänge – außer jener zwischen Ägypten und Gaza –, des gesamten Luftraumes über dem Territorium sowie aller Zugänge vom Mittelmeer aus. Die Bewegungsfreiheit der 1,2 Millionen Palästinenser sowie die Aus- und Einfuhr von Waren bleiben daher massiv eingeschränkt und unter ständiger Kontrolle israelischer Sicherheitskräfte. Die Entscheidung über den Bau eines neuen Seehafens an der Gaza-Küste und eines Flughafens sowie die Kontrolle über den Betrieb dieser Einrichtungen behielt sich die Regierung Scharon ebenso vor wie das „Recht“, das Territorium zum Zwecke der „Selbstverteidigung“ jederzeit wieder militärisch zu besetzen.

Scharons Abzugsplan bedeutet daher kein dauerhaftes Ende der Besatzung, sondern lediglich eine Veränderung ihres Charakters: von einer „Besatzung durch unmittelbare Präsenz“ jüdischer Siedler und israelischer Soldaten zu einer „Besatzung durch Belagerung“ des Territoriums.

Damit bleiben die völkerrechtlichen Verpflichtungen Israels gegenüber der palästinensischen Bevölkerung im Gaza-Streifen – darunter jene zur Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und so weiter – auch nach dem Abzug aller Siedler und Soldaten vollumfänglich erhalten. „Das Vorliegen dieser Verpflichtungen“, heißt es in den völkerrechtsbegründenden Beschlüssen des Nürnberger Kriegsverbrechtertribunals von 1946, „hängt nicht davon ab, ob die Besatzungsmacht die effektive Kontrolle über ein Territorium aufgegeben hat, sondern ob sie weiterhin die Fähigkeit hat, diese Kontrolle auszuüben.“

Darüber hinaus bedeutet der Abzug aller Siedler und Soldaten aus dem Gaza-Streifen auch deshalb nicht ein „Ende der Besatzung“, weil die Situation dort nicht isoliert existiert von den anderen 1967 und danach von Israel eroberten Gebieten. In den von Israel unterzeichneten Oslo-Verträgen von 1993 sind der Gaza-Streifen, die Westbank und Ostjerusalem ausdrücklich als „zusammenhängendes palästinensisches Territorium“ definiert.

ANDREAS ZUMACH