: Nachhaltiger Niedergang
Nur bei MacDonald’s in Champbertrand sind überhaupt größere Menschenansammlungen zu beobachten: „Diagonale du vide“, die Ausstellung des Magnum-Fotografen Antoine d’Agata im Espace Diaphanes
Von Brigitte Werneburg
Quer durch Frankreich, vom Südwesten hoch bis in den Nordosten, fuhren in diesem Jahr der Magnum-Fotograf Antoine d’Agata, seine Freundin sowie eine Assistentin der Bildagentur und der französisch-tunesische Schauspieler, Philosoph und Schriftsteller Mehdi Belhaj Kacem. Dabei entpuppte sich La France profond, das tief verwurzelte, ländliche Frankreich, als das die strukturschwache, dünn besiedelte Zone euphemistisch beschworen wird, als einzige Wüste. „Diagonale du vide“ heißt denn auch die Ausstellung mit einigen der Aufnahmen von Antoine d’Agata im Espace Diaphanes in der Dresdner Straße.
Die neben den Gelbwesten größten Menschenansammlung, auf die sie im Lauf mehrerer Tagen gestoßen seien, fanden sie bei McDonald’s in Champbertrand, schreibt Kacem, dem der Road Trip durch die gewöhnliche Misere Europas vor Reisebeginn noch als kleine Flucht aus seiner materiellen, seelischen und intellektuellen Misere in Paris erschienen war. Einer Stadt, wie er weiter schreibt, die ihm immer feindselig und aggressiv begegnete, wenn ihm die Mittel fehlten, einer Stadt, die alles tut, die Armen zu vertreiben, wie schon Guy Debord feststellte.
Bei uns ist es der Innenminister Herr Seehofer, der diejenigen, die sich die exorbitanten Mieten in den Metropolen nicht (mehr) leisten können, auffordert, sich gefälligst aufs platte Land zu verziehen, dort fänden sie schließlich billigen Wohnraum, wie er sagt. Ob ihm schon mal aufgefallen ist, dass die Unzufriedenen nicht in den Städten, sondern auf dem Land leben?
Es mag hier ja billige Mieten geben, aber dazu gehört auch der entsprechend billige, schäbige Alltag. Wie kriegen es die Leute eigentlich hin, hier nicht dem Alkoholismus zu verfallen, der Depression und der Versuchung des Suizids, fragt sich Mehdi Belhaj Kacem angesichts der Dörfer, die ohne Geschäft für den Alltagsbedarf, ohne Schule, ohne Kneipe vollkommen ausgestorben scheinen, obwohl sie bewohnt sind.
Tatsächlich ist auf den Fotografien von Antoine d’Agata oft schwer zu erkennen, ob die Fensterläden und Türen nur temporär oder schon für immer heruntergelassen und zugeschlossen sind. In jedem Fall aber ist dieser Zustand ein Charakteristikum der Hausfassaden. So wie ein entmutigendes Steingrau und ein niederschmetterndes Betongrau die Dörfer kennzeichnet. Farbtupfer liefert allein die Verkehrsinfrastruktur mit ihren rotweißen Leitplanken, Stoppschildern oder ein roter Löschwasserstutzen. Angesichts dieses Panoramas der Trostlosigkeit kann, so hat man den Eindruck, das Gelb der ländlichen Protestbewegung nur dem Verkehrssystem entstammen. Ja, die Camps der Gelbwesten bringen Farbe ins Landleben.
Selbstverständlich ist die Atmosphäre der Bilder der Ästhetik des Fotografen mindestens so sehr geschuldet wie dem Gegenstand. Antoine d’Agata beherrscht es, das Düstere düster in Szene zu setzen, das, was ins Dunkle abgeschoben wird, käuflicher Sex, Sucht und Obsessionen. Jetzt richtet er seinen Fokus auf die agroindustriell entleerte Provinz, Regionen, in denen seit Jahren über nachhaltige Entwicklung geschwafelt wird. Tatsächlich aber nur der nachhaltige Niedergang zu dokumentieren ist, wie Antoine d’Agata feststellt.
Auffällig ist bei den Bildern vernagelter Häuser und aufgegebener Krankenhäuser wie dem psychiatrischen Sanatorium in Bergesserin, dass d’Agata neben einer Prostituierten nur noch eine Reihe Polizisten frontal als individuelle Personen entgegentreten. Sie gehören zum Sicherheitskordon, der Emmanuel Macron bei einem Auftritt während der „grand débat“ schützt, der landesweiten Debatten-Rundreise des Präsidenten, auf der er das Gespräch mit Lokalpolitikern oder ganz normalen Bürgern suchte.
Er wirbt für die Leistungsfähigkeit der repräsentativen Demokratie, scheint aber vor allem ihre Grenzen zu verkörpern. Für Mehdi Belhaj Kacem jedenfalls repräsentiert er das repräsentative Frankreich, eine Fiktion, die längst nicht mehr trägt, hat sie doch kaum mehr Verbindung mehr mit Gesellschaft und Land. Das dafür symbolische Bild könnte die Tankstelle im Nebel bei Cravant im Département Yonne sein, so wie ihr im Dunst erstickendes gelbes Licht hilflos signalisiert: Ich bin noch in Betrieb.
Bis 26. Juli, Diaphanes, Dresdner Str. 118, Di.–Fr. 12–18 Uhr
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