Abheben mit Gegensätzen

MUSIKFEST Die Berliner Philharmoniker und der Pianist Pierre-Laurent Aimard spielten am Samstag Schlüsselwerke des Komponisten Charles Ives. Seine Experimente klangen dabei weit radikaler als die Jazz-Anleihen seiner US-amerikanischen Nachfolger

Das Wort „Crossover“ klingt nicht nur hässlich, es tut auch noch so, als benenne es ein richtig – oder zumindest halbwegs – neues Ding. In der Musik etwa wird der Kaufwert von Klassikangeboten dadurch aufgewertet, dass man sie mit anderen Genres und Stilen kreuzt. Neu ist das alles nicht, wie man am Samstag beim Musikfest in der Philharmonie zu hören bekam.

In den USA etwa waren in der klassischen Musik des frühen 20. Jahrhunderts Experimente mit populären Formaten durchaus verbreitet. George Gershwin überführte Bigband-Klänge ins klassische Idiom und brachte Sinfonie-Orchestern so das Swingen bei. Oder das Rumba-Tanzen, wie mit seiner „Cuban Overture“, die die Berliner Philharmoniker unter Ingo Metzmacher zum Auftakt spielten. Ganz ähnlich sein Kollege George Antheil, der mit „A Jazz Symphony“ einen gefällig-lockeren Ton anschlug.

Noch raffinierter kombinierte Leonard Bernstein in Werken wie seinem Musical „West Side Story“ schroffe Rhythmen und Tonartwechsel mit Mambo-Elementen und Broadway-tauglichen Melodien – Songs wie „Somewhere“ wurden von diversen Popmusikern gecovert. Aber auch in der rein instrumentalen symphonischen Suite, die in der Philharmonie gespielt wurde, verfehlte die Musik, die manchmal wenig Angst vor Kitsch kennt, ihre suggestive Wirkung keinesfalls.

Bernstein war es auch, der als Dirigent einen Kanon amerikanischer Musik etablierte, in dem Gershwin durchaus vorkam, Antheil dafür nicht. Vor allem aber verdankt die Musikwelt Bernstein die Entdeckung des US-amerikanischen Avantgarde-Pioniers Charles Ives, einem Außenseiter, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidende Impulse für die Entwicklung der Musik seines Landes gab – als Freizeitkomponist. Sein Geld verdiente er bewusst als erfolgreicher Versicherungsunternehmer.

Ives’ Klangsprache steckt voll schroffer Dissonanzen und wirkt auch heute noch auf fremdartige Weise faszinierend. Besonders seltsam mutet sein unverbundenes Nebeneinander von konventionell tonaler, oft schlicht gehaltener „Gebrauchsmusik“ – Kirchenlieder oder Märsche – und atonalem Experiment – mit dem er ein recht krudes Beispiel für „Crossover“ bietet.

Dass Ives nicht nur ein musikalisch neugieriger, sondern zudem ein höchst spiritueller Mensch war, merkte man seiner Symphonie Nr. 4 deutlich an. Das Orchester beschwor, am Klavier unterstützt vom französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard, mit harten Klängen mystische Stimmungen herauf, die weniger besinnlich als beunruhigend wirkten und durch die ein- wie ausgangs vom Ernst Senff Chor gesungenen Hymnen noch irritierender schienen.

Weit ekstatischer ging es anschließend im Solokonzert von Aimard zu, als dieser mit Ives’ Zweiter Klaviersonate „Concord, Mass., 1840-60“ ein weiteres Meisterwerk des großen Einzelgängers darbot. Das Stück, eigentlich eine Sammlung von vier Kompositionen, die Vertretern des amerikanischen Transzendentalismus von Ralph Waldo Emerson bis Henry David Thoreau gewidmet sind, steckt voller unmenschlich schneller Passagen, die zum Teil mit Cluster-Akkorden arbeiten. Aimard bewältigte das früher als unspielbar bezeichnete Werk so kraftvoll und so nuanciert, dass seine entrückten Momente auch zu vorgerückter Stunde noch elektrisieren konnten.

TIM CASPAR BOEHME

■ Musikfest Berlin, noch bis zum 18. September