„Ich bin nicht Berlin gewesen“

Seit sechs Monaten nehmen Migranten an den neuen Integrationskursen teil. Ein Unterrichtsbesuch bei „Wohnen und Leben“ zeigt größere Herausforderungen als nur den Gebrauch von Präpositionen

VON ADRIENNE WOLTERSDORF

„Vor drei Wochen war ich nicht in Berlin, ich war in der Türkei.“ Dieser Satz an der Tafel bereitet elf Frauen und einem Mann gehörige Schwierigkeiten. Günay Darici, die kleine energische Deutschlehrerin, wird nicht müde, alle Fehler der Aufgerufenen freundlich zu korrigieren. In deren Sprachgefühl klingt „Ich bin nicht Berlin gewesen“ oder so ähnlich wesentlich logischer.

Seit dem 28. Februar büffelt diese Gruppe jeden Morgen von 9 bis 13 Uhr gemeinsam bei „Wohnen und Leben“ in der Kreuzberger Cuvrystraße. Es ist einer der ersten Integrationskurse, die nach der Änderung des Zuwanderungsgesetzes durch die rot-grüne Bundesregierung im Januar 2005 in Berlin starteten.

Günay Darici, Philosophie-Dozentin aus der Türkei, die seit neun Jahren in Deutschland lebt, muss immer wieder ins Türkische verfallen. Dann entspannen sich die angestrengten Mienen der Teilnehmenden. „Akkusativ, Dativ, Perfekt – ich muss erst auf Türkisch erklären, was das überhaupt sein soll“, sagt sie und erklärt noch einmal Wort für Wort, was auf der Tafel steht. Notizen machen sich die wenigsten Teilnehmerinnen. „Es können ja nur zwei oder drei von ihnen überhaupt lesen und schreiben“, erklärt Günay Darici.

Türkan Akis würde gerne mehr als nur ihren Namen und einige Vokabeln notieren können. Mühsam, wie eine Erstklässlerin, schreibt sie ihren Namen in einzelnen Druckbuchstaben. Die 38-jährige Mutter von vier Kindern lebt bereits seit acht Jahren in Deutschland. Sorgfältig steckt die Frau aus dem kurdischen Mardin immer wieder ihre Haare unter das geblümte Kopftuch, während sie erzählt. Im vergangenen Jahr hat sie einen Alphabetisierungskurs in Kreuzberg besucht: „Seitdem kann ich wenigstens ein bisschen was“, erzählt sie schüchtern dem Dolmetscher. Wenn sie zum Arzt muss oder zu Behörden, hilft immer der Älteste. Der ist schon 18 und kann etwas Deutsch. Ansonsten „ist es alles sehr, sehr schwer für mich“, sagt sie verlegen. Aber froh sei sie dennoch, dass sie nun etwas lernt. Zu Hause hat sie nur ein Jahr die Schule besuchen dürfen.

Ayla Ertürk, die zusammen mit Günay Darici unterrichtet, ist sich sicher, dass Kursbesucher wie Türkan Akis den so genannten „B 1-Test“ nicht schaffen werden. Er soll den Abschluss der insgesamt 600 Unterrichtsstunden bilden. „Der Test verlangt ein Deutschniveau, mit dem man die Tagesschau verstehen kann. Das werden 95 Prozent der Migranten hier nicht mit 600 Stunden schaffen“, ist sie überzeugt.

Wenn die 600 Stunden Sprachunterricht am Ende des Jahres vorbei sein werden, weiß Türkan Akis noch nicht, ob sie weitermachen kann. Ihre Familie müsste den Deutschkurs dann voll bezahlen, bis zu 20 Euro die Woche.

Dass ein Mann mit in der Klasse sitzt, stört sie jedenfalls nicht. „Zuerst wollten die Frauen unter sich bleiben“, erzählt Günay Darici. „Doch jetzt haben sich alle aneinander gewöhnt – und ehrlich, es läuft besser so“, sagt sie lachend. „Die Frauen tratschen weniger und der Mann kriegt ab und zu ganz schön was zu hören, wenn er ihnen widerspricht.“