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Liebling der Massen Uli Hannemann Heute ist Dreckschweintag

Am Abend lenkt eine verrückte Mischlaune aus Hunger und destruktiver Hochstimmung meine Schritte zum ersten Mal seit Ewigkeiten zu McDonald’s. Die Ausrufung gelegentlicher Dreckschweintage finde ich unerlässlich für die Seelenhygiene, und heute ist eben mal wieder so ein Dreckschweintag.

Schon am Schalter ist es voll authentisch. Vor und hinter mir stehen hörbar nur Idioten und ich bin einer von ihnen. Das Personal ist sagenhaft unfreundlich – die müssen in der Kantine von Workuta gelernt haben – und der Fraß bekanntermaßen noch schlechter als bei Burger King. Das muss man echt erst mal hinkriegen. Doch die enthaltenen Suchtstoffe machen, dass man sich das Zeug in den Mund steckt, darauf herumkaut und es hinunterschluckt, als handelte es sich um Nahrung.

Das Zeug wird mir in einer Papiertüte über den Tresen geschubst. Mit dem Fahrrad will ich es den kurzen Weg nach Hause schaffen. Auf der Kreuzung Sonnenallee reißt mir die Tüte und der Inhalt purzelt auf die Straße. Die Burger-Schachtel bleibt halb geschlossen, doch fünf Chickenwings verteilen sich einzeln über die Fahrbahn.

Panisch versuche ich mit einer Hand – die andere hält das Rad – den Unrat wieder einzusammeln. Die Autos bekommen grün, doch sie fahren nur langsam auf mich zu. Eines beschirmt mich wie eine Glucke mit seinen großen Scheinwerfern, die zugleich helfend Unglücksstelle und Bergungsarbeiten beleuchten. Keiner dieser sonst so rauen Gesellen hupt, schreit oder überfährt mich, obwohl ich als Radfahrer doch ihr natürlicher Feind bin, den sie bei jeder anderen Gelegenheit auf der Stelle töten würden. Hier aber sehen sie nur die existenzielle Notlage: Mensch. Essen. Straße. Ein wenig graut ihnen sicher auch vor meinem Wahnsinn. Denn ich verrate euch an dieser Stelle ein Geheimnis: Der Hermannplatz ist nicht so sauber, dass man vom Boden essen kann.

Ich weiß doch, wie hier auf Schritt und Tritt auf den Boden gerotzt, geflatscht, geschnoddert, geault und gekotzt wird. Und viele Leute sind ja auch ganz schlimm krank. Ich weiß überdies, wie viele Ratten und Tauben hier auf dem Asphalt verenden, wie viel Hundekacke über Jahre hinweg den ursprünglichen Straßenbelag weitgehend ersetzt hat. Nicht zu vergessen die Sohlen der Fußgänger und die Reifenprofile der Autos, aus denen sich das alles und noch viel mehr gelöst und breitgetreten hat.

Eigentlich müsste man vom bloßen Gedanken daran, die Chickenwings noch zu essen, Krätze, Ruhr und Pest bekommen. Schon beim Reißen der Tüte habe ich sofort gedacht: Das ist jetzt die Strafe. Und zwar die Strafe für die Vernichtung des eigenen Körpers, des Regenwaldes und der Unterstützung der National Rifle Association. Diese neurotische Anwandlung, vermutlich ein Spätlast der düsteren 1960er-Jahre, konterkariert den Zweck des Dreckschweintags, einen Kurzurlaub von Moral, Verstand und Geschmack.

Endlich habe ich alles wieder eingesammelt und das Fahrrad an den Rand geschoben. Meine Pfoten sind grau und fettig. Der Verkehr kann wieder fließen. Warum ich das gemacht habe, kann ich mir ebenfalls nur mit parareligiösen Zwangsgedanken erklären: Essen, auch wenn die Bezeichnung hier kaum zutrifft, darf nicht verkommen.

Ich könnte ja die Chickenwings zu Hause mit meinem Küchenpinsel zum Verstreichen von Schokoladenguss säubern. Nur so als autosuggestiven Akt, denn niemand glaubt im Ernst, dass er damit Trilliarden teuflischer Mikroben und Scheißepartikel entfernen kann, geschweige denn die, die sich ohnehin schon in den Wings befinden. Aber ich kann mich ja belügen, beten und hoffen, womit wir dann schon wieder beim Thema Religion und Aberglauben wären.

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