berlinmusik: Töne, reduziert
Das Wunder der langgezogenen Töne. Man kann viel mit ihnen machen, dicke Mauern auftürmen, vollgestopft mit Obertönen, und sehr, sehr laut. Drone geht oft so. Man kann aber auch eine kleine Auswahl nehmen, die Tonabstände noch etwas kleiner machen als sonst und damit ebenfalls eine Fülle an Obertönen hervorzaubern, ohne beim Publikum gleich dauerhafte Verletzungen im Ohr herbeizuführen. Reduktionismus kann man das nennen. Oder minimalistisch.
Der 1934 in Berlin geborene Komponist Ernstalbrecht Stiebler ist das beste Beispiel in Deutschland für minimalistische Musik, die sich nur eingeschränkt an dem orientiert, was Minimal Music sonst so kennzeichnet. Rhythmische Patterns, die sich wiederholen und mit langsamen Verschiebungen arbeiten, finden sich bei ihm eher weniger. Schnelle Figuren erst recht nicht. Mit Steve Reich, Philip Glass oder Terry Riley im Ohr wird man daher vielleicht überrascht sein, wenn man sich die neuere und neueste Kammermusik Stieblers auf seiner Schallplatte „Zwischen den Tönen“ anhört.
In „Intervall 19“ aus dem Jahr 1997, interpretiert vom Kammerorchester des Rumänischen Rundfunks, arbeitet Stiebler mit kleinsten Tonabständen, die in ihrer allmählichen Veränderung einen immensen Mikrokosmos an Frequenzreichtum offenbaren. Stiebler zoomt mit dieser Vorgehensweise sehr dicht an das Sich-aneinander-Reiben von Schwingungen heran. Ganz ähnlich geht er in „Slow Motion“ von 2003 vor, hier vom Kammerensemble The Barton Workshop eingespielt. Irgendwie passiert nichts, und trotzdem ist hinterher alles anders.
Mit dem jüngsten Stück „ortung“ (2018) meint man fast, so etwas wie „traditionelle“ Kammermusik zu hören, mit Akkorden, durchaus harmonischen, bloß eben in Zeitlupentempo dargeboten. Dazwischen viele ebenfalls sehr langsame Glissandi. Dass Stiebler an Klang als solchem fasziniert ist, macht diese Aufnahme mit dem Berliner Solistenensemble Kaleidoskop sehr schön deutlich. Im titelgebenden Werk „Zwischen den Tönen“ wählt er dann andere Resonanzkörper: Es ist für Frauenchor geschrieben. Von der Schola Heidelberg wird diese Etüde des Hörens auf den allmählichen Wechsel von einer Note zur nächsten mit konzentrierter Leichtigkeit lebendig gemacht.
Tim Caspar Boehme
Ernstalbrecht Stiebler: „Zwischen den Tönen“ (Edition Telemark)
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