Kämpfende Kinder

Gewalt, Begehren: Beim Berliner „Tanz im August“ zeigt die französische Choreografin Mathilde Monnier ihre neue Arbeit „Frère et soeur“

VON DOROTHEA MARCUS

Es war ein anstrengender Sommer. Obwohl die 46-jährige Mathilde Monnier seit fast zehn Jahren zu Frankreichs renommiertesten Choreografinnen gehört, gibt es doch diesen Moment, an dem es zu viel wird, die Tourneen, die Reisen, die Journalisten. Sie war ein wenig verletzt von den französischen Kritiken: Für ihre neueste Arbeit „Frère et soeur“ („Bruder und Schwester“), die vor einem Monat auf dem Festival von Avignon uraufgeführt wurde, wurde sie fast schon beschimpft. Doch vermutlich war es nur die kumulierte Enttäuschung der Kritiker über das diesjährige Avignon-Festival, die sich auf die schmale, blonde Choreografin entlud, die zum ersten Mal im heiligen Ehrenhof des Papstpalastes inszenieren durfte. So erwischte sie der geballte Widerwillen der Franzosen gegenüber der Tatsache, dass das textgläubige französische Theater ausgedient und sich das legendäre Festival in Jan Fabres aufgesetzten Performance-Exzessen aufgerieben hat.

„Sie flirtet mit Oberflächenreizen“, schrieb Le Monde, doch nichts kann man den kargen Arbeiten Monniers weniger unterstellen als Oberflächlichkeit. Sie ist vielmehr auf der Suche nach psychologischer Tiefe und körperlicher Entgrenzung. Ihre Themen kommen aus der Psychologie und Psychoanalyse, bauen auf Texten auf, die Liebe, Gemeinschaft und Wahnsinn behandeln. Um das Bewegungsrepertoire der Tänzer zu erweitern, arbeitet Mathilde Monnier in psychiatrischen Kliniken mit Autisten („L'atelier en pièces“, 1996) oder Demenzkranken („Arrêtez, arrêtons, arrête“, 1997) und auf der Bühne mit sexueller Stimulation oder Schmerzen.

Was ist der Ursprung des Begehrens? Braucht man Lust, um mit jemandem zu leben, oder ist sie eher hinderlich? Solche Fragen standen am Beginn der Arbeit zu „Frère et soeur“, die ab heute in Berlin auf dem Festival „Tanz im August“ zu sehen ist. Die Bühne von Anne Tolleter besteht aus drei Bodenplatten und einem schwarzen Kasten, aus dem sich nach und nach die Tänzer winden. Zunächst sieht man in ihnen nichts weiter als kämpfende Kinder – vierzehn Personen in blauen Hemden und grauen Hosen, die sich wüst an den Haaren reißen, in den Hintern treten, bösartig Beine stellen. Es schmerzt fast körperlich, ihnen dabei zuzusehen. Der Ursprung des Begehrens ist Gewalt, meint Mathilde Monnier und führt dafür Lacan an: Die späteren Beziehungen eines Menschen seien von der ersten, der gewaltsamen Geschwisterbeziehung geprägt, von der „Frérocité“.

Ganz hinten tanzt ein Paar in zärtlicher Eintracht, zwei Menschen tragen einen Dritten auf Händen. Dann stehen zwei Tänzer am Mikrofon und rezitieren beiläufig die amerikanische Punkautorin Kathy Acker: „Du bist nicht die Frau, die ich erhofft habe.“ „Ich weiß nicht, wie man gibt“, „hör auf zu wollen“. Paargeraune wird zum Soundtrack der Choreografie, mehr und mehr lösen sich die Duos auf, um in einer halbnackt hin- und herrasenden Masse aufzugehen.

„Ich versuche, eine konkrete Geschichte zu erzählen, nicht in Worten, sondern mit der Abstraktheit und Sinnlichkeit, die Körper und Bewegungen haben“, sagt Mathilde Monnier. Es ist eine Art Entwicklungsroman darüber, dass die Gewalt aus der Kindheit das komplizierte Begehren zwischen Mann und Frau bestimmt, dass man Frieden letztlich nur über eine Wahlfamilie und eine innere Aufgabe findet. Doch was sich so eingängig anhört, erschließt sich nicht auf den ersten Blick: Monniers Arbeiten wirken verschlossen, man muss sich einsehen, damit sie ihre Poesie entfalten.

„Schreiben“ nennt Monnier auch ihr Choreografieren. Ein Schreiben im Kopf, das nirgendwo niedergelegt ist. „Ich werde durch Bücher inspiriert“, sagt sie, „auf den Proben gibt es einen Büchertisch, die Tänzer sollen ständig darin blättern.“ Vielleicht sind ihr auch deshalb die Hände im Tanz so wichtig? „Die Hände sind im europäischen Tanz völlig unterrepräsentiert. Ich habe mich viel mit Tanz auf Bali und in Indien beschäftigt, dort sind die Arme der Ursprung der Bewegung“, sagt sie und malt beim Sprechen in die Luft. Ihre Liebe zu Texten geht so weit, dass sie seit 1997 immer wieder mit der streitbaren Autorin Christine Angot zusammenarbeitet, deren autobiografisch-intime Romane über Inzest und Liebesversagen Frankreichs Literaturszene in Aufruhr versetzen. Monnier und Angot harmonieren jedoch sehr gut miteinander – die Schriftstellerin ist Ratgeberin und manchmal Autorin, sie assistiert dann und wann auf Proben.

In dem Porträt „Vers Mathilde“, das die Filmemacherin Claire Denis von Monnier gemacht hat, gibt es eine Szene, in der die Choreografin plötzlich verzweifelt eine Probe abbricht: „Es funktioniert nicht. Die Tänzer finden nichts Eigenes, sie imitieren mich nur. Es braucht eine Lücke, in der das Unerwartete entsteht.“ Genau das aber macht die Arbeit an ihren Stücken auch oft langwierig, denn die Gemeinschaft folgt meist dem Gesetz des Lautesten – die friedliche Identität in der Wahlfamilie, die „Frère et soeur“ zeitweise behauptet, gibt es nie dauerhaft.

Mathilde Monnier wurde in Mulhouse geboren, einer Industriestadt an der deutschen Grenze, deren Niedergang sie in ihrer Kindheit erlebte – „das hat mir eine bestimmte soziale Orientierung mitgegeben“. Sie fühlt sich beeinflusst von der deutschen Kultur, auch über den Philosophen Jean-Luc Nancy, „einen deutschen Denker“, mit dem sie gerade einen Gesprächsband herausgibt. Und obwohl Frankreich als eines der Länder gilt, in dem das fragile Gebilde Tanz durch choreografische Zentren am klügsten gefördert wird, glaubt sie, dass in Deutschland die Bedingungen für den Tanz besser sind – und wünschte sich manchmal, hier zu arbeiten.