Der Bruder im Geiste

Frère Roger war der einzige Protestant, den die katholische Kirche als Glaubensbruder akzeptierte und verehrte. Ein Nachruf auf den Gründer und Promoter des Jugendwallfahrtsorts Taizé

VON JAN FEDDERSEN

Niemand, der ihn einmal sah, schmal und doch kräftig, keiner, der ihn hörte, leise und trotzdem vernehmbar, findet ein garstiges Wort über ihn. Frère Roger, der Gründer und, wenn man so will, spirituelle Rektor des Jugendwallfahrtsorts Taizé, ist vorgestern Abend während einer Andacht von einer offenbar psychisch verwirrten Frau mit mehreren Messerstichen getötet worden. Eine Viertelstunde nach dem Attentat starb der leidenschaftliche Christ. 90 Jahre alt wurde der gebürtige Schweizer.

Über dem Weltjugendtag in Köln liegt eine Art von Trauer, die umso erstaunlicher ist, als sie einem Protestanten gilt – weshalb es einem theologischen Wunder beinah gleichkommt, wenn Karl Jüsten, Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe, ihm nachruft: „Es ist schwierig, als Katholik zu sagen, er war ein Heiliger, aber vielleicht werden die Evangelischen verstehen, wenn wir ihn als solchen verehren.“

Frère Roger, das war – neben den bereits verstorbenen, Mutter Teresa wie Papst Johannes Paul II. – die einzige christliche Figur, die generationsübergreifend Respekt genoss. Und die populärste. Dem bekennenden Freund einer konfessionell unterschiedslosen Ökumene wurde Charisma attestiert.

Ein Mann, der zu Ruhm und Verehrung am stärksten in den 70er-Jahren gelangte – ohne sich in dem Glamour zu sonnen: Das Kloster, das er in den 40ern auf der von der Wehrmacht nicht besetzten Seite Frankreichs, knapp hinter der Demarkationslinie, gründete, lebte aus sich selbst heraus – Rücklagen wurden keine gebildet, Spenden und Gaben blieben unangenommen. In Taizé gab man zunächst Mitgliedern der Résistance und Juden Asyl, nach dem Krieg, zum Verdruss der Vichy-vergessenen Franzosen, kümmerte man sich um deutsche Kriegsgefangene.

Taizé, das war ein evangelisches Refugium in milder, sinnenfroher Landschaft – eine reformatorische Gründung und doch kein architektonischer Affront gegen Rom. Denn Frère Roger lebte die Ökumene, den Glauben, dass der Sinn einer göttlichen, einer christlichen Botschaft nicht darin liegen müsse, einander zu verfolgen, auszugrenzen. Ora et labora, bete und arbeite, war das Credo in Taizé – und es wurde gelebt. Man kam, das bezeugen eine Fülle von jugendlichen Reiseberichten aus den Nachkriegsjahren, und blieb meist länger, als man plante.

Gerade die Deutschen pilgerten nach Taizé, in ein Frankreich, das ihren Eltern oft und meist ihren Großeltern noch als Erzfeind galt: Frère Roger signalisierte ihnen, ebenso willkommen zu sein wie alle anderen. Liebevoller konnte der Ingenieursglauben an eine Welt nach Gusto des realen Sozialismus nicht gedacht werden: Frère Roger, der sich in dieser Hinsicht bestens mit dem polnischen Papst einig wusste, predigte Vertrauen – weil es Kontakt zu anderen Menschen ermögliche, Misstrauen hingegen den Menschen abschotte. Besser konnte man das, was die Mentalität des Eisernen Vorhangs genannt werden möchte, nicht kritisieren.

Und als sei in den 60ern alle jugendliche Welt auf geheimnisvolle Art vernetzt gewesen, klang auch Kris Kristoffersens Song „Me and Bobby McGee“ wie eine Ehrbezeugung vom Experiment namens Taizé: „Freedom ’s just another word for nothing left to lose.“ Der Zeitgeist begann den Konsum zu kritisieren – in Taizé wurde es vorgelebt. Nicht bettelarm sei der Mensch ein Mensch, aber auch keiner, der nach Dingen gierig strebe.

Karol Wojtyła, der polnische Papst, sagte über ihn nur Gutes, denn Frère Roger war es auch, der sein Kloster Menschen katholischer Prägung öffnete: „Man kommt nach Taizé wie an den Rand einer Quelle. Der Reisende hält ein, löscht seinen Durst und setzt den Weg fort.“

Roger Schutz, so sein bürgerlicher Name, am 12. Mai 1915 als Sohn eines Pfarrers und einer katholischen Mutter in Provence im Kanton Vaud geboren, war im Vatikan ein angesehener Mann: Bei den Trauerfeierlichkeiten für seinen Freund, Papst Johannes Paul II., durfte Frère Roger an der Eucharistiefeier teilnehmen. Ein, gemessen an der katholischen Dogmatik, unerhörter Vorgang: Protestanten sind in den Augen der vatikanischen Lehre keine echten Christen, denen die Oblate und das leibhaftige Blut Christi gereicht werden darf. Frère Roger durfte – und in christlichen Oppositionsforen fragte man besorgt, ob Frère Roger denn noch evangelisch oder womöglich heimlich Katholik geworden sei.

Eine zufriedenstellende Antwort gab es auf diese bange Frage nie: Frère Roger, der die Arbeit von Taizé als „Violenz der Friedfertigkeit“ umriss, verstand den Tod, konventionell christlich, als eine Tür in ein anderes Leben. Verstanden im Sinne der von ihm verehrten Mutter Christi, Maria, hatte er seine eigene Konfession.