Die Frau, die unbekannte Patientin

VON COSIMA SCHMITT

Sie ist die beste Geldquelle der Ärztezunft. Von Teenietagen an schluckt die Frau Pillen und Kapseln, tröpfelt sich Arzneien in den Mund – im Schnitt häufiger als ein Mann. Und doch ist Frausein und Kranksein ein unterschätztes Risiko. „Patientinnen erleben eine fatale Mischung aus Über-, Fehl- und Mangelversorgung“, sagt Gerd Glaeske, Arzneimittelforscher an der Uni Bremen. Er hat die Daten der rund 1,4 Millionen Versicherten der Gmünder Ersatzkasse ausgewertet. Das Ergebnis seiner aktuellen Studie: Frauen nehmen viele Pillen, die sie gar nicht benötigen. Sind sie aber ernsthaft krank, werden sie oft schlechter medizinisch versorgt. „Frauen erhalten die billigeren und älteren Medikamente, Männer die moderneren, teureren“, sagt Glaeske. Medizinisch sei das kaum begründet. Vielmehr gefährdeten Klischees das Patientinnenwohl.

1. Die Psychofalle

Da wäre zunächst die Frau, das übermedikamentierte Wesen. Normale Stationen eines Frauenlebens – die Periode und die Wechseljahre – würden zum Leidenszustand ernannt, den es medikamentös zu bekämpfen gelte, kritisiert Glaeske. Als mitschuldig sieht er Teile der Pharmaindustrie. Mit suggestiven Slogans wie „In der Regel machen Frauen schlapp“ verführen sie die Ärzte, leichtfertig zum Rezeptblock zu greifen. Ihre Prospekte zeigen Frauen, hinter einen Besen wie hinter ein Gefängnisgitter gebannt. Eine Pille könne ihnen helfen, sich weniger ängstlich zu fühlen, lehrt der Begleittext.

Solche Aussagen fördern ein Klischee. Die Frau gilt als hysterisches Wesen, als Daueranwärterin auf Psycholeiden. Eine Frau muss doppelt so oft zum Arzt gehen wie ein Mann, bevor ihre Symptome ernst genommen werden, ermittelte eine Studie des Bundesfamilienministeriums – der Patient Mann wird rundum durchgecheckt, das Frauenleiden als Seelenkrise abgetan.

Und oft schlucken Frauen dann Psychopillen, die vermeidbar wären. Der gängige Fall: Eine Mittfünfzigerin durchlebt ein Tief. Die Kinder sind aus dem Haus, der Mann ist untreu, die Frau zweifelt am Sinn ihres Lebens. Der Arzt verordnet Psychopharmaka statt psychologischen Beistand. Immerhin sind die Pillen billig, sie belasten sein Budget kaum. Manche Frau aber, die nur eine kurzzeitige Krise durchleidet, wird zur von Psychopillen Dauerabhängigen (siehe unten).

2. Der Eva-Infarkt

Sosehr manche ÄrztInnen den „Faktor Frau“ bei der Diagnose überbewerten – in anderer Hinsicht unterschätzen sie ihn. Viele missachten, wie anders sich eine Erkrankung im Frauen- als im Männerkörper auswirkt. Ein Beispiel ist der Herzinfarkt. Frauen erleiden ihn immer häufiger – und öfter als beim Mann ist er tödlich (siehe unten).

Ein Grund: Selbst Ärzte verkennen die Symptome. Mancher Hausarzt reicht Magentropfen, statt den Notarzt zu rufen. Denn während die Infarktschmerzen beim Mann oft von der Brust und vom linken Arm ausstrahlen, klagen Frauen häufig über Wirbelsäulen- oder Bauchschmerzen und Übelkeit. Mediziner nennen das „atypische Symptome“ – als sei die Infarktpatientin die vernachlässigenswerte Abweichung von der Norm. Dabei sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen unter Frauen die häufigste Todesursache, verbreiteter als der gefürchtete Brustkrebs. Die Ignoranz gegenüber dem Frauenleiden Infarkt setzt sich über den Notfall hinaus fort. Glaeskes Studie belegt, dass selbst Frauen, die den Infarkt überleben, benachteiligt sind. Stärker als ein Mann sind sie vom Reinfarkt bedroht – weil sie seltener die Präventivpillen nehmen, die eigentlich Standard der Infarktnachsorge sind. Glaeske hat das am Beispiel der Cholesterinsenker untersucht. Bei den 55- bis 59-Jährigen etwa erhielten 55 Prozent der Männer, aber nur 35 Prozent der Frauen cholesterinsenkende Mittel. Glaeske spricht von „dramatischer Unterversorgung“.

3. Die Forschungsfalle

Was aber sind die Ursachen für so viel Geschlechterblindheit? Das Dilemma beginnt in der Forschung. Jahrzehntelang testete vor allem eine Bevölkerungsgruppe neue Medikamente: Männer um die vierzig. So weiß man lediglich, wie ein Mittel im rüstigen Männerkörper wirkt, welche Dosis ihn kuriert, welche Nebenwirkungen drohen. Frauen gelten als zu kompliziert für eine preisbewusste Pharmaforschung. Schließlich schwankt der weibliche Hormonspiegel stark, die Ergebnisse sind schlechter vergleichbar. Hinzu kommen gesundheitliche Skrupel. Eine Probandin könnte schwanger sein oder später noch ein Kind gebären wollen. Ein Ausweg wäre, neue Mittel allein an Frauen jenseits der Wechseljahre zu testen.

Der Aufwand lohnt. Denn selbst bei Allerweltsmedikamenten unterscheiden sich die Wirkungen erheblich. Aspirin etwa beugt bei Männern einem Herzinfarkt vor – bei Frauen nicht. Anders Opiate, starke Schmerzmittel. Sie schlagen bei Frauen besser an. Das Schmerzmittel Ibuprofen hingegen wirkt bei jungen Frauen schlechter. Antihistaminika, die den Heuschnupfen mindern, rufen bei der Patientin häufiger Herzrhythmusstörungen hervor. Der Frauenkörper reagiert auch anders auf Metoprolol, einen Betablocker, der bei Bluthochdruck, Migräne oder nach Infarkten verordnet wird. Das Mittel wirkt stärker, macht Frauen aber auch häufiger müde oder gar bewusstlos.

So fordert Gabriele Kaczmarczyk, Ärztin an der Berliner Charité, auf jedem Beipackzettel sollte vermerkt sein, wie ein Mittel beim Mann und wie es bei der Frau anzuwenden ist. Denn noch würden „Millionen Frauen ständig überdosiert“. Die zierliche Greisin schluckt ein Menge, die für den robusten Mittvierziger optimiert ist. Dabei unterscheidet sie und ihn nicht nur das Körpermaß. Frauen haben einen anderen Hormonhaushalt und einen höheren Fett- und geringeren Wasseranteil – „ein Kilo Mann ist nicht gleich ein Kilo Frau“, sagt Kaczmarczyk. „Die Körper reagieren anders auf die Wirkstoffe.“

Erst allmählich wächst hierzulande das Bewusstsein, wie defizitär eine allein an männlichen Probanden orientierte Forschung ist. Neuerdings bemüht sich auch der Gesetzgeber um Auswege. Der bislang wichtigste Schritt steht in der 12. Novelle zum Arzneimittelgesetz vom Juli 2004. Sie legt fest: Wer ein neues Medikament klinisch prüft, soll auch die eventuell unterschiedliche Wirkung bei Männern und Frauen ermitteln. Wird dies versäumt, kann die zuständige Behörde die Zulassung verweigern. Der Ärztin Kaczmarczyk geht das nicht weit genug. Ihre Kritik: Nur für neu zugelassene Arzneimittel gelten die strengeren Auflagen, nicht aber für ein Mittel, das längst auf dem Markt ist.

Die USA sind da weiter. Im Aids-Zeitalter erkämpften sich dort die Frauen den Einlass in die klinischen Studien. Seit 1994 existieren entsprechende ethische und rechtliche Richtlinien. Mittlerweile dürfen zahlreiche Frauen als Arzneimittel-Probandinnen wirken.

Hierzulande mehren sich nun wenigstens die kleinen Fortschritte, hat Petra Thürmann, Pharmakologin an der Uni Witten/Herdecke, bemerkt. Sie untersucht die Infoblätter, die Pharmahersteller Ärzten an die Hand geben. Noch vor zehn Jahren war hier das Thema Frau nahezu unbekannt, mittlerweile aber verweise jede dritte bis vierte dieser Anweisungen auf die geschlechtsspezifische Wirkung – „und sei es nur mit der Auskunft, dass eine solche nicht feststellbar ist“, sagt Thürmann. „Ein solches Umdenken war überfällig.“

Denn letztlich profitieren alle vom differenzierten Blick. Noch dominieren Männer Unis wie Krankenhausalltag, prägen eine Lehre, die frauengerechte Gesundheitsvorsorge als Emanzenmarotte abtut. Diese Ignoranz ist nicht nur teuer – immerhin ist es günstiger, eine Kranke gleich richtig zu behandeln, als später Zweitinfarkte und Spätfolgen zu kurieren –, sie schädigt auch den Patienten Mann. Nach wie vor werden vermeintliche Frauenleiden wie ein depressives Gemüt oder Hungerzwang bei ihm zu selten erkannt. Ein geschlechtersensibler Blick ist mehr als eine Frage der Fairness. Er steigert die Heilungschancen – bei Frau und Mann.