Die ungewöhnliche Taktik

„Shoot to kill“-Richtlinien gibt es offiziell seit 2003 – die Praxis wurde aber bereits in den 70er-Jahren angewendet

Polizisten dürfen einen mutmaßlichen Attentäter ohne Vorwarnung in den Kopf schießen

DUBLIN taz ■ Die Richtlinien für das „shoot to kill“, die Todesschusspolitik, stammen aus dem Jahr 2003, wurden aber erstmals am 21. Juli angewendet, als der Brasilianer Jean Charles de Menezes erschossen wurde. Laut Richtlinien müssen die Beamten, die glauben, einen Terroristen identifiziert zu haben, den „Gold Commander“ informieren.

Am 21. Juli war das Cressida Dick, die nicht direkt in die Operation verwickelt war, damit sie über genügend kritische Distanz verfügte, um eine Entscheidung über Leben und Tod fällen zu können. Dick musste abwägen, ob die Gründe für die „Operation Kratos“ ausreichten. Das ist das Codewort für die „ungewöhnliche Taktik“, wie es in den Richtlinien heißt, die es den Beamten erlaubt, einen mutmaßlichen Selbstmordattentäter ohne Vorwarnung in den Kopf zu schießen. Diese Taktik hat die britische Regierung von Israel und Sri Lanka übernommen.

Theoretisch müssen die Polizisten nachweisen, dass sie „ein vernünftiges Maß an Gewalt“ angewendet haben. Dabei reicht es jedoch aus, wenn der Beamte, der den Todesschuss abgefeuert hat, glaubhaft machen kann, dass er davon überzeugt war, es mit einem Selbstmordattentäter zu tun zu haben. Während der Fahndung nach Mitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF) in den Siebzigerjahren wurde das in der Bundesrepublik Deutschland als „putative Notwehr“ bezeichnet. So argumentierte auch ein britisches Gericht im Mai 2004, als es den Polizisten freisprach, der den 46-jährigen Harry Stanley vor sechs Jahren erschossen hatte, weil er ein Tischbein, das Stanley trug, für ein Gewehr gehalten hatte.

Inoffiziell gab es die Politik des „shoot to kill“ bereits in den Siebzigerjahren in Nordirland. Die britische Regierung hatte 1976 die Sondereinsatztruppe der Armee, den Special Air Service (SAS), in die Krisenprovinz entsandt. Die Elitesoldaten machten bei ihren Einsätzen nie den Versuch, Verdächtige zu verhaften. Als 1987 20 SAS-Männer einer Einheit der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) auflauerten, kamen dabei mehrere Passanten, ein jugendlicher SAS-Informant und zwei Entenjäger ums Leben. In allen Fällen urteilten die Gerichte, dass die Soldaten rechtmäßig gehandelt hatten. RALF SOTSCHECK