Jenseits aller Nathanroutine

Mit seiner Sicht auf Lessings „Nathan der Weise“ gelingt dem Kollektiv von Gintersdorfer/Klaßen ein Ausblick aufs tragische Ende der Toleranz

Reduziert auf Bewegungs-Chiffren aus Schrittfolge und Geste: So wird aus dem „Nathan“ ein Gedanken­drama Foto: Knut Klaßen

Von Benno Schirrmeister

Niederschmetternd ist der Schluss. Wo Gotthold Ephraim Lessings Textbuch „unter stummer Wiederholung allerseitiger Umarmungen“ den Vorhang fallen und sein dramatisches Gedicht als Rührstück glücklich ausklingen lässt, endet „Nathan der Weise“ hier als Trauerspiel: „Toleranz ist nicht für heute“, sagt, harsch, Mathieu Svetchine. Und dann trampeln die Darsteller*innen, die Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen für diese Produktion gecastet haben – drei gehören zum Schauspielensemble des Theaters Bremen, vier sind Teil des Gintersdorfer/Klaßen-Kollektivs und Ted Gaier – ist Ted Gaier.

Mal kein Appell an Toleranz

Jedenfalls: Dann stiefeln alle acht Akteur*innen die aus Röhren in die Zuschauerreihen reingeklotzte Rampe – rumms! rumms! rumms! – runter auf die Raumbühne. Da stellen sie sich in einer Reihe auf. Und das ist es.

Ist es wirklich. Das Publikum brauchte bei der Premiere in Bremen im vergangenen Jahr etwas, um sich von diesem verzweifelten Schlusssatz zu erholen – hat er nicht sogar gesagt, mit Toleranz ist es aus für heute? Oder gibt’s heute nicht? Was hat er überhaupt gesagt? Um zu realisieren, dass jetzt Gelegenheit ist zum erlösten Klatschen: Denn dieser „Nathan“ ist eine Zumutung. Er überrascht, er fordert heraus – und weigert sich strikt, eine aktualisierte Version des seit 239 Jahren wiederholten, gut gemeinten Appells zu mehr Toleranz zu liefern. Der nur das Gewissen beruhigt.

Denn ja, es gibt sie, die allgemeine Nathanroutine: Immer, wenn Rassismus und Hass auf Vielfalt in Deutschland fröhliche Urständ feiern, flutscht so unfehlbar wie in einem Reiz-Reaktions-Modell Lessings Erzklassiker auf die Spielpläne der Stadttheater.

Neu sind dann die Kostüme. Gleich bleibt, obwohl vom Autoren eher entworfen als erfahren, die Handlung: Nathan, reicher jüdischer Kaufmann zur Kreuzzugszeit, sieht sich einem Juden hassenden Tempelherren zu Dank verpflichtet, weil der seine Ziehtochter Recha aus dem brennenden Haus gerettet hat.

Und sowohl der Anfeindungen des fundamentalistischen christlichen Patriarchen von Jerusalem als auch der Intrige des verschuldeten Sultans Saladin, der an sein Geld kommen will, muss Nathan sich erwehren. Und er tut das durchs Erzählen der Ring-Parabel – ein Erbring, drei Söhne, ununterscheidbare Duplikate = Gleichwertigkeit der monotheistischen Religionen.

Neue Kostüme hat Marc Aschenbrunner zwar geschneidert – aber die legen kein Rollenbild fest, sondern verweisen eher uniform aufs Repertoire der Boloye- oder anderer ritueller Tanzkunst. Dass er ohnehin nicht an Aktualisierung historischer Stücke glaube, hatte Ted Gaier, für die Musik zuständig, zu Beginn des Abends geraunzt.

Jede Rolle eine These

Und genau das markiert den Ansatz, den Gintersdorfer/Klaßen für das Werk gewählt haben. Sie versuchen es nicht zu transponieren. Sie nehmen es auch nicht, wie noch tendenziell bei ihrem „Dantons Tod“ nach Georg Büchner, zum Vorwand, die verdrängte Seite des Revolutionsjahrhunderts ins Spiel zu bringen – was beim coolen, klugen hellsichtigen Lessing hätte schiefgehen müssen. Der war ja echt ein Guter.

Sie lassen sein Werk stattdessen durchs Team der Spielenden auf das abklopfen, was im Original noch heute bewegt, anspricht, was aktuell bleibt. Das heißt also erst einmal, es als Gedankendrama zu erkennen: Pa­triarch und Tempelherr, Daja, Recha, Saladin und Nathan, jede Rolle ist ja eine These – und deshalb sind sie in dieser reduziert auf eine Bewegungs-Chiffre aus Schrittfolge und Geste präsent. Und in diesem Skelett des Stücks gelingt es dann auf vielfältige Weise zu spielen.

So berührt die von Tänzer Franck Edmond Yao erzählte Erfahrung religiöser Intoleranz, so referiert wie ein nonchalanter Conférencier Hauke Heumann das, was das Publikum im Deutschkurs gelernt und längst vergessen hat: Szenefolge, Debattenkontext – der Streit mit dem fundamentalistischen Hamburger Hauptpastor Goeze! – und Deutungsperspektiven des Werks.

Und so entfaltet echte Ohrwurmqualitäten der Song über das im Stück entwickelte Bild des Islam. Das nämlich sei, so der Refrain, „eine Konstruktion Lessings. / Er verfolgt ein didaktisches Kalkül. / Daran ist erst mal nichts Verkehrtes / Sondern christen-kritisch Ehrenwertes“. Und das ist unbestreitbar wahr. Aber lustig ist es eben auch.

Was so entsteht, ist eine abstrakte Aufführung, in der das Original immer vorhanden ist und nie ganz da. Und gerade das macht die klar getaktete Figurenrede des Urtexts, dort, wo sie denn durchbricht, zur Sensation: Es sind zumal die direkten Konfrontationen im Dialog, in denen Lessings smarte Blankverse unerreicht geschmeidig bleiben.

Das Original ist nie ganz da

Und Gotta Depri als Nathan übersetzt sie, kongenial und wortgetreu in hoch virtuosen Kampftanz, der sie verdoppelt und deutet: Ja, sicher, mit Weisheit, mit Verbeugungs-, Verbiegungs- und Ausweichbewegungen ist es möglich, jeden Angriff abzuwehren. Nicht aber, den Hass zu besiegen, der da sitzt, plump, ewig und unveränderlich nur wiederholen, dass es nichts tue. „Der Jude wird verbrannt.“ Wenn hier ein Vorhang fiele, wäre alles aus.

Sa, 27. 4., 20 Uhr, Kampnagel